Dieses Blog durchsuchen

Samstag, 12. April 2008

Gewaltfaktor Moral

(Titelverlinkung: For the People of Tibet)

Es tut mir leid - die Lage in Tibet zu beurteilen vermag ich nicht. So berührend die Internetseite auch sein mag, deren Link ich soeben erhielt. Und: Täglich erreichen mich irgendwelche Aufforderungen, meine Unterschrift unter irgendeine Petition zu setzen, um gegen ... um für ... ja wogegen eigentlich? Wofür? Hauptsache, der Name steht drunter, Hauptsache die Angelegenheit gewinnt Gewicht. Gewinnt Macht. Damit man dabei ist. Bei den Siegern.

Durchsetzen. Dabei sein. Dort, wo man gewinnt. Moralisch.

Hier: Gegen die chinesische Besetzung von Tibet. Die geschah vor 58 Jahren. Dagegen, daß China die Aufstände, die uns die Medien nahebrachten, niederschlägt? Dafür, daß der Dalai-Lama wieder in Tibet das Szepter übernimmt? Für eine Demokratie in Tibet nach amerikanischem Muster? Bin ich dann verpflichtet, mich zu informieren? Kann ich mich überhaupt hinreichend informieren - müßte ich also hinfahren? Mit wem reden? Wem vor allem glauben? Einem buddhistisch-heidnischen Glauben (mit einem interessanten Inkarnationsgedanken, übrigens) verhelfen, daß er sich in Ruhe entfalten könne - von dem es auch ganz andere Zeugnisse gibt: nämlich schreckliche?

Dafür sehe ich, wie der Druck wächst, sich nicht nur in nahezu alles und jedes einzumischen, zu allem eine Position zu beziehen. Robbenschlachten. Klimawandel. Dschungelverbrennung. Tigerverfolgung. Walsterben. Atommüllverklappung. Hundezüchtung für Essenszwecke. Pelztierfarmen. Singvogelfang in Italien. Laborratten. Kurdenverfolgung. Palästinenserproblem. Irakkrieg. Temelin. Biolebensmittel. Insektizide. Red lists. Bildungsbudget. Ausländerintegration. White Ribbon ... Hey: Das Rauchen! Der jüngste Hammer.

Die Liste wäre endlos verlängerbar, fiele nicht eines auf: Immer umfassender werden die Angelegenheiten, immer mehr zu Blöcken, die das ganze Leben, den ganzen Tag umfassen, von Jahr zu Jahr.

Und: es ist immer dasselbe verlangt: Sich zu deklarieren, sich als guten Menschen zu deklarieren, der diesem weltweiten und öffentlichen Moralkodex angehört. (Denn ob etwas erreicht wird ist - wie edel - unwesentlich; das würde ja die Antworten auf obige Fragen verlangen.) Aber man muß bereit sein, jemand sein, der egal wo, und egal wie, und egal wem die Durchsetzung einer Moral verlangt, und sei es: erzwingt. Ja: Der moralisch ist. Auch ohne das, was Moral überhaupt bildet, näher geprüft zu haben: WIE DENN DIE DINGE WIRKLICH SEIEN. Denn Gerechtigkeit gibt es nur vor dem Hintergrund der Natürlichkeit, dem Wesen der Dinge. Dann sollte sich auch ergeben, OB ICH FÜR SIE ÜBERHAUPT VERANTWORTLICH BIN. Ob also die Dinge in ihrem Lauf zu beeinflussen natürlicherweise in meiner Macht (und damit: Pflicht) steht. Oder als geringeres Übel. Der Streit um Moral ist aber doch ein Streit darum, wie die Dinge sind?!

Denn wer nicht moralisch ist - der sei ausgestoßen. Der hat kein Recht, Teil der menschlichen Gemeinschaft zu sein. Ja, der ist vogelfrei. Und was moralisch sei, das ist hiermit definiert, denn es liegt in einer Tatsache verbunden: mit dem, WER moralisch ist. Das WAS ist unwesentlich. Das kann sich ruhig ändern.

Es geht um das WER. Das ist der eigentliche Ruf dieser Aufforderungen. Wie vorsichtig aber sollte man doch bei dem sein, was einer wie eine Flagge vor sich herträgt. Was einem einer ins Gesicht reckt, auch wenn man nicht danach gefragt hat, damit das Urteil vor der Wahrnehmung da sei, und unveränderlich sei.

Um diesen Glauben zu stärken, brauchen wir immer mehr, immer öfter, immer größere Gelegenheiten, uns zu deklarieren, uns Identität zu verschaffen: Als Gute. Was wohl nur damit zusammenhängen kann, als uns die wirkliche Sättigung der Wirklichkeit fehlt. Die braucht keine Bestätigung mehr. Die wird aus dem natürlichen Vollzug satt. So können wir auf den Tag warten, wo wir mit unserem Blut, unserem Daumenabdruck, den Ausweis der Heiligkeit siegeln. In einer Gemeinschaft der Heiligen.

Sieger sein. In der Moralität. Das ist Heiligkeit.

Und: die wollen wir doch alle, das ist doch legitim das zu wollen - oder!?




 *120408*