Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 10. April 2008

Reinkarnation und Portrait

Nur das Christentum erkannte der Seele genug Gewicht zu, um auch ihre Form in der Kunst wichtig zu nehmen. Welchen Wert hätte Ähnlichkeit (im Portrait, in der Kunst) für das Indien der Seelenwanderungen besitzen können?

Die Vorstellung, Ähnlichkeit sei ein ganz besonderes bevorrechtetes Kunstmittel, erschien dem abendländischen Europa lange als Selbstverständlichkeit, wäre einem Byzantiner aber sehr überraschend vorgekommen; denn für ihn war Kunst zugleich Entpersönlichung, Erlösung von menschlicher Bedingtheit zugunsten des Ewigen; für ihn lag im Portrait mehr die Richtung auf das Symbol als auf die Illusion. Und erst für einen Chinesen, in dessen Augen Ähnlichkeit nichts mit Kunst zu tun hatte, sondern dem Bereich des Zeichens zugehörte. Die chinesischen Maler legten der Familie eines Verstorbenen nach dem Begräbnis ihre Alben vor, in denen alle Arten von Nasen, Augen, Mündern und Gesichtsovalen abgebildet waren, und malten dann, ohne den Verstorbenen je gesehen zu haben. Sie hielten sich dabei im übrigen nicht mehr für Künstler als unsere Wanderphotographen: was ein chinesischer Künstler zu treffen suchte, war eine Ähnlichkeit mit dem, was ein Gesicht, ein Tier, eine Landschaft in sich bargen, an Vorstellungen anregten oder was sie bedeuteten. ... Ähnlichkeit war nichts, was es zu erobern galt, gehörte nicht einmal in den Bereich des Künstlerischen, sondern in den der Identität.


André Malraux





*100408*