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Freitag, 19. Juni 2009

Der schmale Grat

Welche Gratwanderung die Arbeit an der Rolle für den Schauspieler ist, erkennt man an dem, was im Drehbuch "Charakter(beschreibung)" genannt wird. Schreibt man diese Charaktere nieder, bedenkt, was Regisseur und Schauspieler mit diesen Zeilen tun, wie sie damit umgehen werden, werden die Mechanismen deutlich. Und wird deutlich, wie rasch aus einem künstlerischen Prozeß ein technizistisch-mechanistischer Vorgang wird, und mit welcher Sorgfalt damit umgegangen werden muß.

Der Schreibende nämlich steht selbst vor der ständig zu umschiffenden Klippe, eine Figur seiner Handlung nicht "herauszuschälen", abzulösen aus dem, was er sieht, vor sich selber - als Beobachtender, in so geheimnisvollem Zusammenspiel mit dem Schaffen - stehen hat, als lebendigen Menschen, als Figur, sondern Eigenschaften als Treibsatz für seine Handlung zu benutzen, der es an Stringenz und Logik fehlt. Oder durch sinnlose "Phantasie" (ein Begriff, der auch vielfach mißverstanden wird) regelrecht zu verunstalten.

Der Ansatzpunkt ist dann also nicht: Was "tut diese Figur", ist die Frage "Wer, was ist sie?" sondern: "Was soll sie tun? Was brauche ich, damit sie meiner gewünschten Handlung - dahinter: einer gesollten Aussage - entspricht?"

Dieselbe Frage hat sich der Regisseur zu stellen, der Inszenator, und er hat mit denselben Klippen zu ringen. Aber! - er hat es mit einem neuen Vorgang zu tun! In sein Spiel der Figuren, in sein kreatives Spiel ist nämlich ein Faktor dazugekommen, der Schauspieler. An ihm nimmt eine Figur neue Kontur, die für den Regisseur wiederum als solche nur mit einer Haltung des Staunens zu betrachten ist. In dem Moment, wo eine Eigenschaft phänomenologisiert gefordert wird ("mehr Liebe, mehr Charme, mehr Haß, mehr ..."), bricht erneut das Insgesamt der nunmehr entstandenen Figur, wird der Schauspieler mechanisiert und mißbraucht.

Der Regisseur hat sich im Idealfall auf die rein technischen "äußeren" Vorgänge - geh' hierhin, nimm die Karaffe, schleudere sie zu Boden, tritt drauf - zu beschränken. Andernfalls wird er nie über ein Machwerk hinauskommen, in dem mehr oder weniger Faktoren Lebendigkeit simulieren (wie zum Beispiel im "method acting").

Die Herangehensweise für den Schauspieler ergibt sich nun: Die Beschreibung eines Charakters, wie er sie vom Autor vorfindet, ist nicht mehr als eine nachträgliche Erinnerungshilfe, welche Spuren eine Figur hinterließ. Bei: Ihm hinterließ. Sämtliche Aussagen zu Charakter und Psychologie der Figur sind lediglich "Bojen", die anzeigen, daß dahinter, hinter dem seltsamen Nebel, der für viele bereits "Wirklichkeit" bedeutet, für den Künstler aber nur jene Membran ist, die die Welt unzulässig in zwei Hälften teilt, jene des Geistes und jene der Phänomene, daß sich hier also eine lebendige Figur verbirgt, die es zu sehen gilt.

Dann setzt nichts anderes ein als die Imitation, wie sie auch im normalen alltäglichen Beobachten stattfindet: Wo aus dem Menschenstudium (das zu allergrößten Teilen ja unbewußt bereits stattfand, noch ehe jemand an den Beruf des Schauspielers dachte - es ist einer jener Faktoren, die man Begabung nennt, denn schauspielerisches Tun kommt vom Sehen und Hören) eine Eigenschaft FREIGELEGT wird, die dann gezeigt werden kann.

Die Eigenschaften also, die der Schriftsteller einer Figur zuordnet, die ein Regisseur meint zu benötigen, können für den Schauspieler, aber können für alle in dieser Kette des Schaffens, nicht mehr sein als Bojen und nachträgliche Markierung. Die Rolle selbst kann aber nicht von dort her aufgezogen, erarbeitet werden. Die Rolle muß vom Sehen eines lebendigen Menschen her ihr Leben beziehen.

Weil aber der Mensch alles ist und hat, weil des Künstlers Ziel das Universale ist, wo er zum Träger ALLER Form der Schöpfung wird, wird ihm je älter er wird, und je ausgebauter seine Persönlichkeit wird, sein Facettenreichtum größer, das was er zu spielen - als: Darstellen - vermag, immer umfassender.

Aber nur, wenn er in diesem alltäglichen Slalom der Anforderungen und Erwartungen (auch von ihm selber stammend, wobei: damit wieder von außen, weil an einem außen liegenden Effekt orientiert) lernt, soviel Disziplin zu wahren, daß er diesen schmalen Grat nicht verläßt: Wo es sich entscheidet, ob er Effekte mechanisch hervorruft, oder wo er eine Figur freilegt, deren Phantasie zu der seinen, alles an ihm also reiner Formgehorsam wird. Ein Gehorsamsgebot, dem alle, in der langen Kette derjenigen, welche eine Figur "in die Hand" nehmen, die am Schluß auf der Leinwand, auf der Bühne zu sehen ist, unterliegen. Gerade angesichts einer Praxis (im Film, im Theater) gesagt, wo heute Lebendigkeit in all diesen Stufen der Entstehung nur noch mit krankhafter Ergebnis- und Aussagenfixierung erwürgt wird.

Kunst ist eben: Das Schaffen der Welt im Betrachter. Sie selbst aber ist: Der Akt der Befruchtung durch das potente Wort, durch die Wurzel, die im Betrachter Konkretisierung hervorruft beziehungsweise diesen zur Konkretisierung anwegt. Der Poet, der Bildhauer, der Maler, der Komponist, der Regisseur (also auch jene, die es mit bereits weiteren Stufen der Ursächlichkeit zu tun haben), der Schauspieler - sie alle sind mit einer prinzipiellen Ursächlichkeit konfrontiert, zu deren Konkretion sie die Durchgangsstation sind: Ihre Arbeit hebt diese Ursächlichkeit ins Konkrete, macht göttlichen Funken und entelechialen Willen zur konkreten Welt. Ja, Welt sein ist eben: Konkretion des Abstrakten, nur Eigenschaftlichen.

Max Reinhardt meinte genau deshalb einmal: "Nicht verstellen - sondern: Freilegen, das ist die Arbeit des Schauspielers." Ein Gebot, dem alle Künste gleichermaßen unterliegen.

Es ist das Gebot ... der Liebe.





*190609*