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Sonntag, 11. Oktober 2009

Entfremdung der Zukunft

Im Vorwort zu einer von ihm (1903) neu herausgegebenen Sammlung von "Des Knaben Wunderhorn", schreibt Paul Ernst:

"Aber die Zunahme des Reichtums, der Macht und des Wohllebens haben große Gefahren für ein Volk, und bei unseren gesellschaftlichen Zuständen heute zehren wir nur von der Kraft, welche unsere Vorfahren ausgespeichert haben, und erneuern oder vermehren sie nicht. Das Land und die kleinen Städte haben für unser Leben viel an Bedeutung verloren, und übermäßigen Einfluß haben die Großstädte gewonnen; Handwerk und Bauerntum hält sich nicht mehr in der alten Weise, und die Bevölkerungsklassen entstehen: Das Industrieproletariat und die Bourgeoisie - dem fremden Wesen entsprechen fremde Namen. Die Lebensbedingungen dieser neuen Kassen sind ganz andere, als das Wunderhorn voraussetzt, und in diesen anderen Lebensbedingungen entwickelt sich ein neues Empfinden und Denken, dem früheren ganz fremd und unverwandt. Mit einem Wort, ein fremdes Volk wächst unter uns auf, selbst aus unseren Kindern, und gewinnt Einfluß und Macht, sein Wesen als deutsches Wesen durchzudrücken."

Und, nach einem Exkurs über Frankreich, als Musterbeispiel einer historisch nachvollziehbaren völligen Umwandlung eines Volkscharakters, weiter:

"Aber die jüngste Entwicklung unseres Volkes, welche die Schlauen und Zugreifenden, die Ängstlichen und Anpassungsfähigen, die Geschickten und Vielfältigen hebt und die Schweren und Stolzen, die Glücklichen und Frommen, die Feste und Einfältigen zum Sinken bringt, die wird nach Menschenaltern dasselbe Ziel erreicht haben [wie in Frankreich, Anm.]: Das Wesen unseres Volkes gänzlich zu wandeln."




*111009*