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Samstag, 3. Oktober 2009

Von Formlosigkeit zur Form


Was die Auseinandersetzung mit den Werken Hans Blüher's, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts großen Einfluß hatten auf die (weitere) Rezeption der Homosexualität (Stichwort: Wandervogelbewegung) als "normale menschliche Veranlagung", so mühsam macht ist die fast postularische Verwendung des Wortes "Anlage" auf "Vorgefundenes". Damit stimmt der Grundansatz bereits nicht, wohingegen so manche seiner späteren Gedanken sehr originell, ja inspirierend sind, weshalb man denn doch an der Lektüre bleibt. Aber es gibt ein "Vorgefundenes", das als "Anlage" nach positiver Form sucht und drängt (die fehlzuleiten Neurosen bildet, etc.), und es gibt Zustände, in denen nicht ausreichend Geformtes verbleibt, und die später auch "Scheinformen" annehmen können.

Fremd ist Blüher nämlich der Ansatz, daß das Heranwachsen des Menschen nicht nur generell ein Weg vom Ungeformten, Potentiellen zur Form IST, sondern daß es eben Scheinformen geben kann. Denn man kann eben nicht von Formbeliebigkeit beim Menschen (oder: seiner Sexualität) sprechen, weil es Grundkräfte gibt, die ihre "gesunde" Form aus der Kultur, aus dem wechselweisen Spiel mit den umgebenden Kräften und Wirkungen beziehen und herausschälen.

Wobei Blüher noch hellsichtig genug den Begriff "Trieb" zwar in manchen Bereichen differenziert, aber hinwiederum (nicht zufällig fand er weitgehende Übereinstimmung mit Freud) zuwenig Wirklichung, Geglücktheit mit Formvollzug verknüpft, bzw. dessen "wirkliche Wirklichkeit" (als geistige Kraft nämlich!) völlig unterschätzt und außer Belang läßt. Denn hinter dem Sexualtrieb steckt erneut ein noch größerer "Trieb", als Antrieb, als Wille zur Welt und Form. Dort ist das "Sublimationsgeheimnis" zu suchen, nicht in Verdrängungs- und Unterdrückungskraft. Diese werden erst im Oszillieren der Formkraft (Persönlichkeit, Identität) schlagend, gewissermaßen "Stützen" des obersten Vermögens und Wollens. Und hierin ist die sittliche Aufgabe tatsächlich allen gleich, weil sie immer in einem absoluten Würdebegriff mündet.

Nicht alles also, was sich herausbildet, ist also gesunde Form, als Form, die geglücktes Leben bedeutet! Vielmehr passiert die Formwerdung in dem Spannungsfeld persönlicher Freiheit (als Selbstbestimmung in einer Form, deren prinzipielle Kräfte sich in eine Zeit hinein ihr modifiziertes Kleid suchen) und Annahme von traditionsbestimmten Archetypen (als Teil des Gesamtpuzzles der Gesellschaft, in der man sich jeweils bewegt).

Sohin ist auch nicht einfach, wie Blüher es tut, die Neurosenbildung des Invertierten (Blüher's sehr gute begriffliche Definition des Charakters der Homosexualität) auf seine Unterdrückungsmechanismen angesichts einer ablehnenden Umwelt abzuführen, und dabei zu werten, bzw. zu relativieren. (Schon gar nicht angesichts des ohnehin viel zu kurz greifenden Erklärungsinstrumentariums Freuds.) Das ist schlicht: zu leicht gemacht. Die "Statik" der Identitätsfaktoren der umgebenden Sozialfelder kann zwar Beschränkendes, Neurosenbildendes enthalten, gewiß, aber Erwachsenwerden, Formwerden heißt eben auch, diese Fessel insoweit zu durchstoßen, als der Einzelne die Freiheit erreicht, zu wählen, und zur Individualität hin (wie es ja immer notwendig ist) zu durchbrechen - durch Aneignung und individuelle Prägung zur Neuschöpfung (statt der toten Imitation) zu kommen. Ein Vorgang, der mit dem Älterwerden mehr und mehr umfassend wird. (Es ist also sogar notwendig und natürlich, als junger Mensch Formen noch zu "imitieren", die man erst nach und nach "individualisiert", sich wirklich dann aneignet.)

Kulturelle Prägung ist für den Menschen Teil seiner Natur, und als Teil seiner Formwerdung unumgänglich. Sich dagegen prinzipiell zu sträuben ist an sich bereits (ich sehe das sehr deutlich bei der Lektüre von Kate Millett's "Sexus und Herrschaft") ein neurotisches Symptom, das anzeigt, daß innere Formwerdungsvorgänge bereits pathologisch, gelähmt und damit nicht mehr aufnahmefähig für Form (die eine Spannungstoleranz verlangt) generell sind. (Millett ist/war lesbisch.) Oder, wie der deutsche Psychoanalytiker Erwin Möde es einmal ausdrückt: Psychische Heilung bedeutet, Bereitwerdung für die Annahme der Offenbarung (als konstitutives Lebenselement.)

Insofern verwendet Blüher (und so viele andere) den Begriff Neurose in Zusammenhang mit der Invertiertheit/Homosexualität eigentlich falsch. Denn nicht die Homosexualität IST die Neurose. Sondern bestimmte Neurosenbildungen führen zu einer Nichtausbildung einer geformten (das heißt immer: geschlechtsspezifischen, "entlang der Funktionslinie" = natürlich sich betätigenden) Sexualität an sich!

Aber einfach falsch ist, aus der Ungeformtheit eine potentielle homosexuelle Form "für alle" zu attestieren. "Androgynie" ist sohin kein "positiver" (ohne Bezug in moralischem Sinne) Persönlichkeitszustand, der sich "zufällig" zur Hetero-, oder Homosexualität, mit gleichwertigem Glückspotential, entwickelt. Ist also nicht die Summe zweiter gleichwertiger Veranlagungen. Sondern der "Pool", aus dem sich die eine einzige Anlage noch nicht entwickelt hat. Schon gar nicht ist Glücksgefühl ein verläßlicher Parameter, schon gar nicht bei homosexuellen Paaren. (Deren Befindlichkeit man im Durchschnitt ja eher als eindeutiges Indiz für die Homosexualität als Schrecken gewertet werden müßte, aber das zuzugeben, da ist es noch weit, und derzeit, in dem Zustand der heterosexuellen Paare, auch kaum mehr wirklich in diesen Hinsichten überzeugend ...). Denn alleine, wenn man die Sexualität ausklammert, bleiben zwischen Männern mögliche Gemeinsamkeiten und Lebenszufriedenheiten, die man sehr leicht als partnerschaftliche Disposition mißdeuten könnte - gerade WENN man Sexualität nicht als so ausschlaggebend sieht.

Das Gesagte erklärt aber auch, daß - je nach Stärke der Persönlichkeitsmaske, die durchaus schwankt - Homosexualität (wie auch Blüher es nennt) "Latenz" hat! Denn im Zurücksinken der Form, sinkt der Einzelne natürlich wieder, mehr oder weniger, in diese "Androgynie" zurück. Die aber, wie gesagt, keine Form an sich ist, sondern eben Formlosigkeit. So sind auch eine Reihe weiterer Phänomene zu verstehen, wie das Auftauchen von Homosexualität, die "immer da war, aber unterdrückt wurde", bei schon länger Verheirateten - wo die Ehe eben diese Formungskraft nicht entwickeln konnte. Und darauf baut auch die (gewiß zu leichtfertig verwendete) Formel der "Heilbarkeit" der Homosexualität auf.

Ebenso, wie der Befund, der Homosexualität als "Form" "vererbt" (ein Widerspruch in sich!) diagnostiziert, oder (wieder wie Blüher) eine Grundveranlagung bei "jedem" feststellen zu müssen meint) ganz anders verstehbar wird: weil diese Ungeformtheit eben tatsächlich jeden (im Kindheitsstadium) betrifft, er sich aus dieser in die Form zu erheben hat. Und dies seelische Kräfte verlangt (wie aufbaut), die tatsächlich neuerlich auf vererbte Tugendfähigkeit zurückgreift: denn auch das wird vererbt: die Kraft, Form zu tragen, oder: seelische Trägheit (eine mitochondriale Resultante, weiblich.)

(Übrigens: In einem weiteren Sinn ist JEDE Indifferenz, also auch der heute so häufige Synkretismus, als Unterabteilung des seinsfürchtenden Gleichheitswahnes, in solcher ungeformten und immanenten Charakterdisposition gegründet. Die anderseits nicht "der Gegner an sich" sein kann, weil das menschliche Dasein ein permanentes Ungeformtsein, also immer nur ein graduelles Formsein, bedeutet. Der Umgang damit muß anders stattfinden, grob: Er geht nur über das Kreuz, nur über das Spiel. Die Sprache kennt nicht zufällig Begriffe wie "In Form sein", oder auch "In Stimmung - also: Handlungsbereitschaft - bringen".)




*031009*