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Montag, 9. November 2009

Noch einen vollen Koffer


Ein beeindruckendes Interview mit Imre Kertész bringt die Schweizer Zeitung DAS MAGAZIN (Titellink). Zu dem nicht viel zu sagen ist, außer daß ein Exzerpt fast jede Zeile bringen muß - so bemerkenswert ehrlich, und deshalb zumindest hoch interessant, auch dort, wo die Verzweiflung so spürbar wird, sind seine Aussagen. Und nicht zufällig nimmt er Bezug auf Jean Améry, den gleichermaßen beeindruckenden Österreicher, der sich schließlich per Pistolenschuß entleibte - seine Bücher waren mir während meiner Grazer Studentenzeit Offenbarungen ob ihres aufrichtigen Umgangs mit dem Marxismus, dessen prinzipieller Zirkelschluß sich Kertész wie Améry, und damals auch mir, entdeckte.

Um es nicht zu verlieren, das Interview im nur gering ausgedünnten Wortlaut. Denn es sagt auch viel, wenn nicht alles, über Wesen und Arbeit des Schriftstellers:

Der letzte Zeuge

Er war in Auschwitz und Buchenwald und überlebte vierzig Jahre Kommunismus. Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész wird 80. Ein Gespräch über sein Leben nach dem Tod; von Sacha Batthyany und Mikael Krogerus

An einem Stock betritt Imre Kertész die Bar des Hotels Kempinski in Berlin, leichter Buckel, wache Augen. Hier kennt man ihn, hier verehrt man ihn, sofort eilt ein weiß livrierter Kellner herbei und rückt ihm den Sessel zurecht, in den sich Kertész langsam fallen lässt: «Doppelter Espresso, wie immer?» Es ist ein sonniger Herbsttag in Berlin, und die Stadt macht sich bereit für die Feierlichkeiten zum 20-Jahr-Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung.
Als Imre Kertész vor 65 Jahren in Auschwitz-Birkenau ankam, er war 15, waren die neuen unterirdischen Gaskammern und die dazugehörigen Krematorien schon in Betrieb. «In den Öfen wurden neue Roste eingesetzt, und die sechs Schornsteine wurden von oben bis unten inspiziert und ausgebessert», heißt es in der Aussage eines Überlebenden der Sonderkommandos. Man vergaß auch nicht, die Ventilatoren von Elektrikern sorgfältig zu prüfen und warten zu lassen. Zum Schluss wurden die Wände der Gaskammern frisch getüncht: Alles war bereit, die Ungarn konnten kommen.
Die ungarischen Juden waren die letzte verbliebene größere Gemeinde in Europa. Innerhalb weniger Wochen, zwischen Mai und Juli 1944, wurden 438.000 ungarische Juden deportiert, drei Güterzüge mit 4.000 Menschen täglich, selbst Auschwitz, die modernste aller Vernichtungsfabriken, kam damit an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Zusätzliche Verbrennungsgruben mussten angelegt werden, um die vergasten Körper zu beseitigen. Diese Hölle hat Imre Kertész überlebt, ein Jahr später wurde er in Buchenwald befreit, wohin sie ihn aus Auschwitz verschleppt hatten.
Zurück in Budapest, fing Kertész an, für Zeitungen zu arbeiten, später schrieb er Musicals und übersetzte Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud und begann erst 1960 mit der Arbeit an seinem «Roman eines Schicksallosen». Eine Arbeit, die dreizehn Jahre dauern sollte. Entstanden ist das vielleicht radikalste und wahrhaftigste Werk über den Holocaust. Jahrelang wurden seine Bücher verschmäht, weil die Menschen weder im Westen noch im Osten reif waren für die Wucht seiner Gedanken — heute ist er ein gefeierter Autor. Sein aktueller Roman, an dem er täglich schreibt, handelt vom Tod.
Imre Kertész, der 2002 den Nobelpreis für Literatur gewann, ist einer der letzten Überlebenden, ein Zeitzeuge, viele gibt es nicht mehr, sein Wissen stammt nicht aus Geschichtsbüchern, seine Eindrücke und Bilder über Auschwitz sind nicht von Hollywood-Filmen wie «Schindler’s Liste» verzerrt, von dem er im Gespräch behauptet: «‹Schindler’s Liste›? Alles scheissfalsch. Anders kann ich es nicht sagen.»
Doch Kertész hat nicht nur ein Jahr im Lager überlebt, er überlebte auch vierzig Jahre Kommunismus, eingesperrt in einer achtundzwanzig Quadratmeter großen Wohnung in Budapest. Wieder ein totalitäres Regime, «Gulaschkommunismus» nannte man es im Westen verharmlosend. In Wahrheit wurden die Menschen kaltgestellt.
Am 9. November, in zwei Tagen, wird Imre Kertész 80 Jahre alt, ausgerechnet an dem Tag, an dem die Welt den Mauerfall feiert, das Ende des Kalten Krieges. «Ja, doppelter Espresso, wie immer», antwortet Kertész dem Hotel-Kellner. Kertész spricht leise, vorsichtig wählt er seine Worte aus, und wenn ihm eines nicht einfällt, dann läßt er es eben weg. Seine Parkinson-Hände umklammern den Stock, ganz fest, damit sie nicht zittern.

Herr Kertész, wir wollen nicht über Ihre Bücher sprechen.
Worüber dann?

Ihr Leben.
Mein Leben? Was soll daran interessant sein?

Konzentrationslager, Kommunismus, Fall des Eisernen Vorhangs. Sie haben alles gesehen.
Der deutsche Schriftsteller Hans Sahl schrieb: «Wir sind die Letzten. Fragt uns aus.» Also: Fragen Sie!

Alles?
Alles.

Sie waren 15, als Sie über Auschwitz nach Buchenwald deportiert wurden. Wußten Sie, wo sie hinkommen werden?
Nein. Neunzig Prozent der ungarischen Juden hatten keine Ahnung von den Konzentrationslagern.

Wann haben Sie verstanden, was das für eine Art Lager war?
Bei der Ankunft haben wir noch nichts verstanden. Auch die Erwachsenen nicht. Sie ahnten überhaupt nicht, was passieren würde. Nicht mal bei der Selektion verstanden sie, was der Arzt mit ihnen machte. Erst danach, gegen Abend, wurde klar, dass die Schornsteine nicht zu einer Lederfabrik gehörten, wie wir alle dachten, und der süßliche Geruch in der Luft nicht von Leder stammte. Am ersten Abend war mir klar, dass in diesen Schornsteinen die Menschen verbrannten, mit denen ich im Zug gesessen hatte.

Um Ihr Buch «Dossier K.» zu schreiben, haben Sie ständig am Lederarmband Ihrer Uhr gerieben, um sich an den Geruch im KZ zu erinnern.
Ich wollte Erinnerungen auslösen. Das war ein bewußtes Ziel. Heute trage ich auch eine Lederjacke, schauen Sie, braun, Wildleder, aber deshalb denke ich nicht ständig an Buchenwald, wenn Sie das fragen wollten. Wollten Sie das fragen?

Ja. Wie überlebt man ein KZ?
Es gab die religiösen Juden, die sich auf das Schicksal verließen: Was Gott macht, ist immer richtig, dieser Glaube gab ihnen Kraft. Dann gab es die politischen Häftlinge, auch die hatten eine Art Hoffnung, dass ihr Kampf nicht umsonst war. In der hoffnungslosesten Situation waren jene, die an überhaupt nichts glaubten, die überhaupt keine Hoffnung hatten.

Und was hatten Sie?
Weder Glauben noch Hoffnung.

Wie haben Sie dann überlebt?
Ich habe gemacht, was man machen mußte, ich habe mich dieser Todesmaschine angepasst. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, weil Anpassung auch Kollaboration bedeutet. Wer sich im Lager anpaßt, wer die Logik der Todesmaschine versteht und sich ihr beugt, der kollaboriert mit dem Teufel - und genau das habe ich getan. Aber das erzählt man nicht gerne.

Was heißt kollaborieren? Gab es eine Art Gebrauchsanweisung fürs Konzentrationslager?
Eine Regel war: Nie der Erste sein, nie ganz vorne stehen! Aber jeden Tag gab es neue Regeln, je nach Situation. Einmal wollte mir ein Mann meine Schaufel stehlen, offenbar hatte er seine verloren. Er schlug mir wie wild auf die Hand, ich blutete stark, aber ich gab sie ihm nicht her. Eine Schaufel zu verlieren, bedeutete sterben. Wenn du den Tod eines anderen hinnimmst, um dich selbst zu retten, dann kollaborierst du mit dem Teufel. Es gibt Hunderte solcher Geschichten. Es sind untermenschliche Geschichten.

Hatten Sie je Rachegefühle?
Auf wen? Auf die Geschichte? Auf Adolf Hitler? Auf die Lagerkommandanten?

Ja. Auf all das.
Und dann? Wie hätte diese Rache ausgesehen? Hätte ich jedem Einzelnen eine Ohrfeige verpassen müssen? Was bringt das? Das Leben ist nicht immer gerecht.

Simon Wiesenthal hat es getan. Er hat nach seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen sein Leben lang Nazis gejagt. Diesen Sommer wurde gegen den 89-jährigen John Demjanjuk Anklage erhoben. Als Wachmann im polnischen Vernichtungslager Sobibor soll er 28.000 Juden in den Tod getrieben haben.
Ja, ich weiß. Aber das ist nicht mein Fach. Nazis aufstöbern und ihnen auf den Kopf schlagen? Nein, das ist nicht mein Beruf. Das interessiert mich nicht.

Träumen Sie vom KZ?
Nie.

Werden Sie nicht jeden Tag durch Ihre KZ-Tätowierung an diese Zeit erinnert?
Ich hatte eine Nummer, eingenäht in meine Uniform, aber keine Tätowierung. Tätowiert wurde man nur in Auschwitz, nicht in Buchenwald, da müssen Sie besser recherchieren. Hören Sie, was ist so interessant daran, über so ekelhafte Themen zu sprechen? Mit jungen Leuten würde ich viel lieber über etwas Schönes sprechen. Über Kunst oder schöne Frauen.

Ist es unangenehm, darüber zu sprechen?
Nicht unangenehm. Aber unfruchtbar. Schauen Sie, die Erlebnisse in Auschwitz sind so weit von unserem Zivilleben entfernt und so unglaublich, man kann sie sich nicht vorstellen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es war, als ich Kartoffelschalen in mich hineinstopfte. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie ich im «Großen Lager» in Buchenwald 1945 überlebt habe. Es herrschte Typhusepidemie, es gab diese großen Zirkuszelte, in denen die ungarischen Juden untergebracht wurden, die Namenlosen, die jederzeit damit rechnen mußten, niedergeschossen zu werden. Haben Sie schon von dem Begriff der «Musulmanen» gehört? So nannten die Nazis die Menschen im letzten Stadium, wo der Mensch nur noch dahinvegetiert und nur noch aus Haut und Knochen besteht. So wäre auch ich geendet, wenn ich nicht so viel Glück gehabt hätte und einige Zeit in ein sogenanntes Krankenhaus eingeliefert worden wäre. Aber all das kann man sich nicht vorstellen.

Man kann es rekonstruieren.
Die Fakten sind das eine, das ist Historie, damit beschäftigen sich Wissenschaftler. Man kann erwähnen, dass Polen besetzt und das Lager in Auschwitz errichtet wurde. Man kann die Anzahl Toten erwähnen. Aber kann man sich das Leben des Lagerführers Rudolf Höss vorstellen? Der wie ein Beamter am Abend nach Hause ging zu Frau und Kind und Musik hörte, vielleicht Schubert, vielleicht Beethoven? Nein, das können wir uns nicht vorstellen, weil wir es mit unserem realen, heutigen Leben nicht in Verbindung bringen können. Es ist eine geschlossene Welt, und die Ereignisse, die sich darin abspielten, die waren so, so, so… Sie sehen, ich ringe nach Worten. Es gibt keine Adjektive für Auschwitz.

Sie haben doch ein ganzes Buch über den Holocaust geschrieben.
Das ist was anderes. Privat kann ich darüber nichts sagen. Aber als Schriftsteller schon. Ich kann mir eine Kunstform ausdenken, eine Sprache, ich kann eine Figur kreieren, die statt mir was sagt. Auschwitz ist ein wunderbares Thema für einen Roman. Daß ich den Teufel des 20. Jahrhunderts gesehen habe, und erst noch von ganz Nahem, das ist für mich als Schriftsteller ein Gewinn. Weil ich etwas weiß, was niemand außer mir wissen kann. Und ich habe auch nicht über den Holocaust geschrieben, das ist falsch. Sondern über die Schicksallosigkeit.

Sie haben etwas geschrieben, das niemand zuvor über Auschwitz geschrieben hat: Sie seien glücklich, in Auschwitz gewesen zu sein.
Ich empfand die radikalsten Momente des Glücks in den Konzentrationslagern. Man kann sich nicht vorstellen, was es bedeutet, eine zehnminütige Pause einzulegen während der Arbeit. Sehr nahe am Tod zu stehen, ist auch eine Form des Glücks.

Die Bücher anderer Autoren über diese Zeit, interessieren Sie die?
Zum Teil. Paul Celans Todesfuge ist außerordentlich, die wunderbaren Essays von Jean Améry, Primo Levys Roman, Tadeusz Borowski sowieso. Doch der Rest ist meistens Kitsch: Eine glückliche jüdische Familie kommt ins KZ, einige überleben, andere nicht, am Ende werden sie von der Roten Armee gerettet — solche Bücher wurden in Ungarn ohne Ende publiziert. Das Lagerleben als Story. Das geht nicht.

Was ist mit den Filmen?
Es gab einen polnischen Film, den ich kurz nach dem Krieg gesehen habe und danach nie wieder. Er zeigt das Schicksal der Frauen in Birkenau: ein grauer Morgen, die Sonne geht auf, die Frauen stehen sich gegenüber und beginnen mit ihren Oberkörpern zu schaukeln, hin und her und hin und her, um nicht vor Müdigkeit zusammenzubrechen. Diese Szene ist absolut glaubwürdig. Das kann nur einer gefilmt haben, der dort war.

Muß man dort gewesen sein, um einen guten Film über den Holocaust zu drehen?
Nicht unbedingt. Aber man muß sich schon was ausdenken, um in die Nähe dessen zu gelangen, was ein Konzentrationslager ausmacht. Roberto Benigni hat das probiert, «La vita e bella», ein Märchenfilm. Wunderbar.

Haben Sie den neuen Film von Tarantino gesehen?
Von wem?

Quentin Tarantino, ein amerikanischer Regisseur. Der Film heisst «Inglorious Basterds». Ein jüdisches Killerkommando schafft es in diesem Film, Adolf Hitler zu töten.
Was?

Spielbergs «Schindler’s Liste»?
«Schindler’s Liste»? Der schlimmste Film von allen. Da ist alles scheißfalsch, ich kann das nicht anders sagen.

Was ist falsch daran?
Der Ausgangspunkt ist falsch. Dieses positive Denken. Spielberg erzählt die Geschichte aus dem Blick eines Siegers. Am Ende laufen die Leute in einer Reihe und singen, als ob die Menschheit gesiegt hätte. Der Ausgangspunkt eines KZ-Filmes kann nur der Verlust sein, die Niederlage der europäischen Kulturzivilisation. Das ist die Wahrheit: Holocaust-Erlebnisse sind universelle Erlebnisse. Der Holocaust ist kein deutsch-jüdischer Krieg, wer das denkt, der kommt zu nichts. Der Holocaust ist ein universelles Versagen aller zivilisatorischen Werte, und lange Zeit dachte ich, wir hätten daraus etwas gelernt. Aber ich lag falsch.

Was kann man vom Holocaust lernen?
Ein Bewußtsein. Niemals darf eine Gesellschaft, niemals darf die Politik wieder eine ähnliche Situation zulassen. Und wenn es Anzeichen dafür gibt, müssen Alarmsirenen heulen. Aber schauen Sie sich die Finanzkrise an. Eine Finanzkrise war auch der Ausgangspunkt der Machtübernahme Hitlers. Der Holocaust hat keine Wirkung mehr auf das Bewußtsein der europäischen Politiker, sonst wäre es jetzt nicht so weit gekommen.

Aber es wird doch - gerade von der Politik - einiges getan, um die Finanzkrise zu bewältigen. Außerdem ist eine neue Generation an der Macht, Merkel, Sarkozy, Gordon Brown, Obama sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Soll man denn bei allen zukünftigen Ereignissen den Holocaust mitdenken?
Sollen? Man muß. Ich habe mal geschrieben, dass Auschwitz jederzeit möglich ist, weil das, was Auschwitz ermöglicht hat, nicht verschwunden ist.

Nach Ihrer Befreiung kehrten Sie 1945 nach Ungarn zurück. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie wieder in einer Diktatur leben?
Sehr schnell. Die totale kommunistische Diktatur kam 1948/1949, alles wurde verstaatlicht. Schon damals kursierte der Witz: «Weißt du, was die heutige Situation von den Nazis unterscheidet?» - «Jetzt tragen alle einen gelben Stern, nicht nur die Juden.»

Warum sind Sie nicht geflüchtet, 1956, als die Russen den ungarischen Volksaufstand brutal niederschlugen? Über 200.000 Ungarn verließen das Land. Sie blieben.
Ich war 27 Jahre alt, und ich habe mich entschieden zu schreiben. Ich hatte nur diese eine Sprache, die ungarische, und es war mir klar, daß ich keine neue Sprache finden werde, in der ich mich ausdrücken kann.

Sie haben ein freies Leben dem Schreiben unterworfen.
Ja.

Das klingt heroisch.
Was ist heroisch daran, dreizehn Jahre an einem Roman zu schreiben?

Haben Sie nie bereut, geblieben zu sein?
Natürlich war ich unglücklich und depressiv, das Leben war schrecklich, ich lebte eingesperrt in einer achtundzwanzig Quadratmeter großen Wohnung. Ungarn wurde die «fröhlichste Baracke des sozialistischen Lagers» genannt oder «Gulaschkommunismus», beide Begriffe sind fürchterliche Verharmlosungen. In Wahrheit war es ein Gefängnis. János Kádár, der Generalsekretär, für viele eine Art Vaterfigur, war ein perfider Massenmörder, der auch nach 1956 viele Menschen hinrichten ließ, auch Jugendliche, die erst sechzehn Jahre alt waren. Die ganze ungarische Gesellschaft, mit Ausnahmen natürlich!, hat sich angepaßt, ich habe das so bewußt und deutlich wahrgenommen, weil ich diese Anpassung schon in Auschwitz erlebt habe. Das endgültige Bild eines totalitären Systems konnte ich erst in Ungarn während des Kádár-Regimes erleben.

Hätte man die Bürger Ungarns damals gefragt, ob Sie in einer Diktatur leben, viele hätten den Kopf geschüttelt. Wieso nahmen die Menschen das so verzerrt wahr?
Die Diktatur erlöst den Menschen. Sie hebt das Individuum auf. Es ist eine ganz große Erleichterung, wenn einem das Denken abgenommen wird. So bleibt auch die persönliche Verantwortung auf der Strecke. Und ohne diese persönliche Verantwortung ist der Mensch Kind. Totalitarismus bedeutet eine infantilisierte Gesellschaft.

In Umfragen in Ländern des ehemaligen Ostblocks bekunden viele Menschen Nostalgie. Vor der Wende soll alles besser gewesen sein, heißt es da, das Wetter schöner, das Essen schmackhafter, das Heizöl billiger. Spüren Sie das auch, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, so etwas wie Nostalgie?
Ich? Nostalgie? Diese Frage können Sie nicht ernst meinen.

Gab es für Sie auch in dieser Diktatur Momente des Glücks?
Schreiben war Glück. Schreiben bedeutete für mich Freiheit. Andere beten oder kämpfen - ich schreibe. Ich kann das nicht erklären. Das Schreiben wurde für mich zum Gesetz meines Lebens. Mit dem Schreiben verbinde ich magische Momente, es ist meine Leidenschaft.

Eine Obsession.
Da haben Sie recht! Schreiben als Notwendigkeit. Ich wäre sonst schon lange tot.

Sie haben keine Kinder. Weil Kinder Sie vom Schreiben abgehalten hätten?
«Familien, ich hasse euch», sagte André Gide. Ich wollte keine Kinder, weil ich um meine Unabhängigkeit bangte. Ich wollte mich nicht binden, mich nicht einrichten. Familie bedeutet Einschränkung, gerade in Diktaturen. Meine zweite Frau Magda hat vier Enkelkinder, das finde ich heute sehr schön. Aber als 30-Jähriger hatte ich Angst vor Kindern.

Für wen schreiben Sie?
Für mich. Ich setze mich nicht hin und denke: Jetzt schreibe ich ein Buch, das attraktiv ist und erst noch dem Nobelpreis-Komitee gefällt. So geht das nicht. Ich mache Aufzeichnungen über Jahre, und auf einmal ertappe ich mich dabei, daß sie sich zu einem Roman verdichten.

Schreiben Sie heute noch?
Jeden Tag.

Auf einer alten Schreibmaschine mit Walze?
Ich habe Parkinson, da ist ein Laptop besser geeignet. Was ich schreibe, drucke ich immer aus, ich kann nicht auf dem Bildschirm lesen. Ich bin bald 80, ich mußte das alles lernen, auch neue Wörter wie USB-Stick zum Beispiel.

1983 waren Sie zum ersten Mal im Westen. Wie zeigte sich Ihnen der Kapitalismus?
Das Goethe-Institut hat mich eingeladen als Übersetzer. Ich war in München, es war ein heißer Sommertag, und während der Besprechung fing es an zu regnen, zu stürmen, zu hageln. Als man mich zur Tür begleitete, erklärte man mir, welche Straßenbahn ich nehmen sollte, um ins Hotel zu gelangen. Doch ich bestellte ein Taxi. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Deutsche Mark in der Hand. Echtes Geld! Der ungarische Forint war ja kein Geld. Als wir ankamen, gab ich dem Fahrer Trinkgeld, eine Mark, worauf er sich bedankte. Da gab ich ihm noch eine Mark, worauf er sich erneut bedankte. Das war meine erste Erfahrung mit dem Kapitalismus. Ein Taxifahrer.

Sie fühlten sich zu Hause?
Sofort.

Wie verbrachten Sie Ihren ersten Tag in der «Freiheit»?
Ich ging essen in ein kleines Restaurant, sämtliche Tische waren besetzt, und ich setzte mich an einen Tisch mit jungen Leuten, deren Haare farbig waren und in alle Himmelsrichtungen standen.

Sie setzten sich neben Punks.
Punks. Etwas verängstigt bestellte ich meine Suppe, es gab ja keine Punks in Ungarn, ich hatte noch nie solche Frisuren gesehen. Als meine Suppe kam, sagte der eine zum anderen: «Reich dem Herrn das Salz.» Ganz höflich. Ich muss immer wieder an diese Szene denken. Später ging ich in den Buchladen eines großen Warenhauses und verbrachte dort mehrere Stunden. So viele Bücher hatte ich noch nie gesehen, ich war überwältigt und konnte mich nicht entscheiden.

Die Menge hat Sie erschreckt. Der Überfluß.
Erschreckt? Von mir werden Sie keine Kapitalismuskritik hören, niemals. Ich habe vierzig Jahre in kommunistischer Gefangenschaft gelebt und lebe viel besser in der kapitalistischen Wirtschaft, weil sie frei ist. Frei bis zum Tod. Das Problem war nicht der Überfluß.

Sie hatten nicht genug Geld?
Das Gewicht war das Problem! Ich konnte nicht so viel tragen, und ich konnte die Bücher nicht zurück über die Grenze nach Ungarn schmuggeln.

Dachten Sie 1983, dass der Eiserne Vorhang fallen würde?
Als ich in Berlin war, stand ich stundenlang an der Mauer und sah rüber auf die große elektronische Nachrichtenanzeige des Axel-Springer-Hauses. Ich stand auch lange am Checkpoint Charly. «Nie», so dachte ich damals, «nie wirst du auf die andere Seite kommen.» Jetzt bin ich da.

In zwei Tagen werden Sie 80. Wie feiern Sie?
Was soll ich feiern? Ich gehe neuerdings am Stock, schauen Sie, auch das Aufstehen fällt mir schwer. Ich feiere nicht, aber ich staune. Jean Améry, auch er ein KZ-Überlebender, der später Selbstmord beging, sagte: «Meine Existenz ist eine Betriebspanne in der Todesmaschinerie.» Ich staune, daß ich überhaupt da bin.

Sie sind trotz dem vielen Leid, das Sie erlebt haben, immer Optimist geblieben.
Wenn Sie das sagen.

Wenn Sie zurückblicken, worauf sind Sie stolz?
Dass ich in einer verheerenden und dekreativen Gesellschaft etwas hervorgebracht habe, darauf bin ich stolz, das erfüllt mich mit Hoffnung. Gegen diese unbarmherzige, schlimme, reale, unförmige Welt konnte ich mit meiner Welt antreten, in der ich mich auskenne, in der ich sagen kann, warum das so ist und nicht so. In der realen Welt gibt es keine Orientierung.

Sie kennen sich in Ihrer Fantasie besser aus als in der Wirklichkeit.
Es ist meine Wirklichkeit. Schauen Sie, da draußen, in der sogenannten Wirklichkeit, was ist da los? Alles zerfällt. Auch die Kultur.

War früher alles besser?
Nein, nein. Ich denke, es gibt schon auch noch gute junge Intellektuelle. Ich kenne sie einfach nicht.

Sie leben heute in Berlin. Kennt ein Nobelpreisträger und Intellektueller wie Sie eigentlich auch Fernsehsendungen wie «Germany’s Next Topmodel» mit Heidi Klum?
Wie bitte?

Heidi Klum? Sie wollten doch über schöne Frauen reden.
Tut mir leid, aber ich kenne diese Frau nicht. Sollte ich?

Welche Bücher lesen Sie?
Ich lese weniger als früher. Ich bin alt und habe nicht mehr viel Zeit. Die entscheidenden Leseerfahrungen habe ich in meinen jungen Jahren gemacht, was mich geprägt und erschüttert hat, das waren Albert Camus und Thomas Mann mit seinem Gesamtwerk. In meiner Jugend auch Dostojewski. Ich war noch keine dreißig und habe fast die ganze Weltliteratur gelesen, das ist nicht so viel, wie man denkt. Dann war ich satt.

Wie ist es, einen Schriftsteller zu lesen, der einem sehr ähnlich ist, fühlt man sich da bedroht oder umgekehrt: verstanden?
Franz Kafka, der mir so verwandt ist, ist leider erst nach den Sechzigerjahren in ungarischer Sprache erschienen. Ich habe dann alles von ihm gelesen, es hat mir auch alles sehr gut gefallen, aber ich hatte dieses erschütternde Erlebnis nicht mehr. Ich war schon zu alt, um beeinflußt zu werden.

Erschreckt Sie der Gedanke an Ihren eigenen Tod?
Das ist eine wichtige Frage. Ich schreibe gerade ein Buch über den Tod. Über den Tod wird nicht viel geschrieben.

Stimmt es, daß man sich zum Ende des Lebens hin der Religion zuwendet?
Bei mir nicht.

Wann haben Sie sich zum ersten Mal mit dem Tod auseinandergesetzt?
In einem KZ müssen Sie sich mit dem Tod auseinandersetzen. Nicht philosophisch, sondern ganz praktisch. Ich hatte keine großen Gedanken im Kopf, nur den Moment. Man wollte mich töten, ich aber wollte leben, wenn es auch nur ein Hundeleben war. Dennoch wollte ich leben.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ja. Aber ich hole meine Furcht an die Oberfläche und schreibe darüber. Wovor ich Angst habe, ist, daß der Tod so plötzlich kommt, ohne Trost und Zeichen. Dieser Gedanke macht mich wütend, vielleicht will ich noch ein Buch schreiben, aber der Tod kommt und bringt mich weg. Der ungarische Komponist Béla Bartók hat an seinem Todesbett gesagt: «Ich gehe, und mein Koffer ist noch voll.»

Auch Ihr Koffer ist noch voll?
Mehr als voll.


*091109*