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Dienstag, 26. Januar 2010

Epos, Drama, Tragödie

"Nur eine formale Ästhetik konnte dem Irrtum verfallen, ein allgemeines Drama an sich werde durch einen tragischen Helden oder durch eine tragische Handlung gleichsam zur Tragödie determiniert. Solchen leeren Konstruktionen gegenüber kann nicht oft genug wiederholt werden, daß das Drama als Tragödie auf die Welt gekommen ist, daß die Tragödie aber einem Verhältnis des Dichters zu den Sagenhelden seines Volkes entsprungen ist. Nicht von ästhetischem Räsonnement, sondern von dem ernsten Gehalt der ersten Tragödie haben wir auszugehen, wenn wir dem Wesen und der Entstehung des tragischen Phänomens näherkommen wollen.

[...]

Nun zeigt uns das epische Gedicht den Heros handelnd und leidend verflochten in die Breite der Wirklichkeit und des Lebens, als ob er nicht gestorben wäre. Wohl liegt im Ton des Erzählers ein Hauch, der uns fühlen läßt, hier sei von Vergangenem die Rede. Aber durch einen Zauber ist die Vergangenheit wieder lebendig geworden. Die Sonne Achills leuchtet Homer, und die Sonne Homers, siehe, sie leuchtet auch uns.

Das Epos macht nicht "gegenwärtig". Das Geheimnis des Epos besteht darin, die Zeit vergessen zu machen. Es geschieht etwas - wir wissen nicht, wann. Wir wissen nur, daß wir es mit unendlicher Lust schauen.

Ganz anders die Tragödie! Sie ist kein Geschehen irgendwann; sie ereignet sich jetzt und hier. Die epische Handlung schwebt in idealer Ferne vorüber. Insofern gleichen ihre Helden den Göttern des Olymp. Die Tragödie aber ist ein lokales Ereignis, gebunden an diese Zeit, dieses Theater, diese Schauspieler und diesen Ort."

Alfred Bäumler beschreibt hier in "Das mythische Weltalter" nicht nur zwei gültige dichterische Formen, sondern, indem er ihre Funktionsweisen, ihre Aufgaben schildert, beschreibt er die Nähe der Tragödie zur Liturgie, zum Kult, zum Gottesdienst - aus dem sie ja entsprungen ist. Und er deutet an, wohin sich das Theater - unbeholfen, weil diese Nähe oft gar nicht bewußt - im Aktualismus (und sogar: Aktionismus) zu bewegen versucht hat. Und man kann nicht anders, als auch Hermann Nitsch hier zu erwähnen, der genau diese Tiefgründigkeit gesucht, wenn auch mangels Form nur Blasphemie und Selbstvergötterung gefunden hat.

Wann aber nun was? Unterliegt die Formenwahl des Dichters Tageslaune? Der Nachfrage der Produzenten?

Also darf der Hinweis noch einmal erwähnt werden: Es geht um das Verhältnis des Dichters zum Transzendenten, zur jenseitigen Macht der Weltgestaltung. Im Gehalt der Tragödie wird ein Gott beschworen, wird das seelische Erleben des Volkes - die Tragödie entstammt (darüber besteht mittlerweile Einigkeit in der Forschung, noch mehr aber: Folgerichtigkeit in den Rückschlüssen, so erst beleuchtet sich alles) dem Klagen des Volkes am Grabe ihrer Helden. Dadurch werden sie gegenwärtig, in ihrem Grundverhältnis zum Allumschaffer, zu Zeus - zu Deos, Gott (Vater)!

Was findet, im Prinzip, denn im katholischen Gottesdienst statt? Der ... am Grabe ihrer Helden (der Altarplatz muß als Mindestvorschrift immer eine Reliquie enthalten, also ein Grab sein), der Märtyrer und Heiligen, die Tragödie des größten Weltschmerzes, des Leidens und Sterbens ihres, des Gottes, vollzieht, aufführt, darstellt - gegenwärtig macht? Jenen Gott verehrt, der in die Unterwelt hinabsteigt? (Hatten wir das nicht schon? Das Opfer als Botschafter, ja als Erlöser, ins Jenseits durch seinen Tod gesandt?)

Und was findet, im Prinzip, im Drama der Bühne, des Films, statt? In der Hingabe des Publikums, seinen Gefühlen, seinen Reaktionen?

"Die Tragödie [Anm.: Das Drama] ist somit ein sich gerade ereignender Vorgang, eine heilige Handlung, die sich auf dem Boden der Wirklichkeit vollzieht" (Bäumler). Sie steht damit im Gegensatz zur Erzählung des Epos, und in ihrer Innigkeit ist sie Totenkult. (Daß zu ihrer Blüte "Antigone" erstand - wen wundert es also?) Vergangenes wird hier gegenwärtig. Getragen vom Glauben, daß die Seele des Verstorbenen nach wie vor wirkmächtig sein kann. Mit einem Male wird gesehen, was vorher nur dumpf gefühlt wurde - Katharsis, Befreiung, Fortwerfen ist das Erlebnis. Nicht auf ästhetische Weise - sondern ganz real.

Und das macht sie im Verhältnis zur Tiefe anders, als das Epos. Nur von dieser Warte aus ist auch die Forderung nach "Einheit der Zeit, des Ortes, der Handlung" überhaupt verstehbar, und bleibt nicht simple Regieanweisung, nur so erhält die Forderung nach Publikumswirkung Sinn. Einem Publikum gegenüber, das im Chor die Ganzheit, Allgemeinheit eines ganz dem Heiligen zugewandten Gemüts erlebt, von diesem erfaßt wird, und als Zwischenglied zwischen Held und abergläubischer Seele - denn nicht Spuk ist es, sondern heilige Handlung.

Im Epos hingegen schauen wir die Sonne, schreibt Bäumler, ohne an die Tiefe zu denken. Im Drama, in der Tragödie aber braucht es Blut - das des Dichters! Er hat hier seine Geschöpfe, seine gezeugten Figuren, und sie werden erst durch sein Blut lebendig.

Aber es ist ein Bedürfnis des Volkes, das die Tragödie herausgefordert hat - als Ort der Katharsis, der Reinigung, der Entdämonisierung durch Darstellung. Jede rein ästhetische Überlegung - auch heute - welche Form der Darstellung zu wählen sei, Epos, Drama/Tragödie, geht deshalb am Wesen des Kunstwerks vorbei.




*260110*