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Montag, 15. Februar 2010

Dieselben Kräfte - andere Formen

"Das menschliche Urteil über Vergangenes steht nie still; alle historischen Gestalten schwanken in der Vorstellung der Nachwelt; es gibt keinen endgültigen Spruch über Gewesenes. Solange Kunde über Sein und Wirken eines Menschen überliefert wird, befehden sich Parteigänger und Feinde über ihre Auslegung. 

Aus der geschichtlichen Darstellung sind der Darstellende und sein Zeitalter reiner zu erkennen als der Dargestellte. Wir wissen wenig über unsere eigenen tiefsten Beweggründe, wenig über unsere Nächsten, wenig über Zeitgenossen, die wir am Werk gesehen haben, aber wir geben immer wieder vor, aus zufällig erhaltenen Zeugnissen über längst vergangene Geschlechter und Gestalten Wahrheiten gewinnen zu können. 

Keiner ist in seinem Urteil frei; jener, der sich den Besitz humaner Geistesfreiheit anmaßt und vermeint, völlig objektiv zu sein wird historischen Erscheinungen, die seinem schwer definierbaren Freiheitsbegriff vermeintlich entsprechen, vor strengen Trägern der Autorität den Vorzug geben und oft den entscheidenden Anteil an Freiheit, dessen jede wahre Autorität zu ihrer Ausübung bedarf, verkennen. 

Jede menschliche Wesensart und Erscheinungsform, jede Tat, jedes Verhalten, jede Äußerung werden, sobald sie in Erscheinung treten, vom Mißverständnis befallen. Wer soll dazu imstande sein, die Summe dieser Mißverständnisse zu tilgen? Der kritische Verstand und seine Methoden? Sie werden selbst immer bedingt sein vom Gefühl des richtenden, wählenden Individuums und seiner Epoche.

Über wenige der großen Gestalten neuerer Geschichtszeitalter lautet das Urteil der Nachlebenden so widerspruchsvoll, überwiegend mißmutig, beschränkend oder hart wie über den bedeutendsten der Habsburger, den Kaiser Karl V.

Alle Kräfte, die seine Leistung einst zunichte machten, sind, in völlig veränderter Form, heute wie je vorhanden: in veränderter Form - und ihre Träger wissen nichts mehr von dem inneren Gesetz, nach dem ihr einstiger großer Gegner, dieser Kaiser, handelte, nichts mehr vom Gehalt seines Wesens, nichts mehr von der zwingenden Vorstellung, deren Verkörperung er gewesen ist."


Carl J. Burckhardt, Einleitung zu "Gedanken über Karl V."




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