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Sonntag, 28. Februar 2010

Vom Wesen des Prophetischen

Als der in Bad Freienwalde (im Oderbruch; Nähe Berlin) im Jahre 1909 geborene jüdische Arzt und Schriftsteller Hans Keilson im Juni 1933 mit seiner Frau, einer begabten Graphologin, eine Ausstellung in Berlin besucht, gehen sie unter anderem an einer Vitrine vorbei, in der sich ein Schriftstück befindet, das Adolf Hitler eigenhändig geschrieben hatte. Da faßt sie ihn am Arm, und flüstert ihm zu: "Der zündet die Welt an!"

Keilson wandert 1936, nachdem er sowohl als Arzt wie als Schriftsteller - als letzter jüdischer Schriftsteller, den der Fischer-Verlag noch verlegt hatte - Berufsverbot erhalten hatte, nach den Niederlanden aus, wo er halb illegal als Arzt und Kinderpsychologe arbeiten und leben kann, ehe er 1940 in den Untergrund abtaucht. Fast zufällig, so erzählt er im Radio anläßlich eines Interviews zum 100. Geburtstag 2009, sei er im Gymnasium in Bad Freienwalde zur Literatur gekommen.

Als sein allererstes Gedicht, die er als Romancier zu seiner eigenen Überraschung, wie er erzählt, in Holland begonnen habe zu schreiben, zitiert er folgende Verse:


Wir Juden

Wir Juden sind auf dieser Welt
Ein schmutz'ger Haufen billiges Geld
Von Gott längst abgewertet.
Er zieht uns nicht aus dem Verkehr.
Er wirft uns weg, er ruft uns her,
Wir zahlen alle Schulden.
So wandern wir im Kreis herum
Von Hand zu Hand, den Buckel krumm,
Uns reibt kein Putztuch helle.

Wo wären wir, wo wär die Welt,
Führt sie ihr Leben ohne Geld
Wer zahlte ihre Schulden?!
Drum braucht sie uns noch lange Zeit.
Doch sie wird rot, wenn ein Jud schreit:
Die Welt hat mich geschlagen! -
Ich werd's dem Gott schon sagen!



Als ich dieses Gedicht - eines Juden - hörte, da begriff ich, ahnend, wieder ein wenig mehr, was es meint, wenn man sagt, daß kein Dichter sei, der nicht seinem Volk, wie seines Volkes Prophet ist - Stimme der Wahrheit, die Gott ist. Welche Selbstaussage auch als Volk, aus dessen Mitte der Erlöser stammt, welch Selbstbegreifen ...

Vielleicht nicht beim ersten, vielleicht aber beim zweiten Lesen versteht man plötzlich viel vom Christentum. Den Hinweis, daß Jesus Jude war, braucht es da wohl nicht mehr.

Aber wer hört? Wer sieht? Sie haben Augen - sehen aber nicht. Ohren, hören aber nicht.