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Samstag, 1. Mai 2010

An der Agitation erstickt

Es gab (unter anderem) einen eindeutigen Tiefpunkt deutscher Literatur und Poesie, und der war im 16. Jahrhundert, schreibt Wilhelm Scherer in seiner Literaturgeschichte. Die dichterische Bildung verschwindet, die Dichtung spielt im Tagesgeschehen keine Rolle mehr, sie ist keine allgemeine Angelegenheit des Volkes, sondern wird zum politischen Agitationsmittel, zu einem Werkzeug praktischer  Tendenzen, zu einem Mittel rohester Unterhaltung.

Dabei ist sie, so Scherer weiter, nicht ohne produktives Vermögen in Bezug auf die Erfindung, sie verbraucht sogar massenhaft Stoff, und schafft einzelne moralische Typen, meist Resultate des Hasses oder des Scherzes, oft von großartigem Wurf sogar.

Aber es fehlt ihr der Zauber der Form. Sie ist zu flüchtig, zu gleichgültig gegen äußere Schönheit; sie vermag sich nicht zu vertiefen, um auszubilden und zu verfeinern; sie überliefert das Beste was sie hat einem glücklicheren Geschlecht als gestaltlosen Stoff.

In diesen Tälern - Scherer sieht in etwa einen sechshundert-Jahr-Zyklus innerhalb der deutschen Literatur - geht das meiste oder alles verloren, was bereits errungen war, so daß das 12. Jahrhundert nichts mehr von der Höhe des 9. weiß, die Formvollendung des 13. Jahrhunderts ist im 15. Jahrhundert wie weggeblasen, und aus der schaurigen Tiefe des 16. Jahrhunderts kämpfen sich "talentlose" (Diktion Scherer) Dichter langsam wieder zu einer anständigen Sprache und einem gebildeten Verse durch.

Andere Völker, so Scherer weiter, machen es klüger. Sie verfügen über Kapitalien, die sorgsam gepflegt werden, so daß auch in Niedergangszeiten wenigstens nichts von der ästhetischen Bildung verloren geht. Das deutsche Volk aber ist viel radikaler - und barbarischer. "In Deutschland verschwinden auch große Kapitalien sehr rasch; das Resultat ist nicht allgemeine Wohlhabenheit, sondern allgemeine Armut. Und aus bitterer Not müssen dann strebende Menschen sich wieder mühsam herausarbeiten."

Auch wenn es dann - Scherer verweist auf die Höhe des 18. Jahrhunderts, die wie aus dem Nichts, binnen weniger Jahrzehnte emporschoß - wieder sehr rasch gehen kann. Es sind schnelle, titanische Reiche, wie jenes des Alexander des Großen, die zum Beispiel zur Zeit Goethes errichtet waren - die aber ebenso rasch, wie sie entstanden, und in besonderer Verbindung mit politischen Vorgängen (die Zeit nach Goethe war in höchstem Maß ideologisch-moralistisch- agitatorisch geprägt) wieder erloschen.




*010510*