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Mittwoch, 2. Juni 2010

Die Fundamente erschüttert

Paul Hazard, der sich in "Die Krise des Europäischen Geistes" lediglich mit den gewaltigen Umwälzungen der Jahrzehnte von (etwa) 1685 bis 1715 befaßt, zeigt, wie die fundamentalste Erschütterung des Weltbildes (aus so zahlreichen Erschütterungen, die in diesen Jahren über Europa und seine Menschen hereinbrachen) vor allem aus einer ausufernden humanistischen Geschichtsschreibung entstand.

Kaum war ja, in einer endlich einmal wieder stabilen Welt, ein faktenvergessener Roman von einer Chronik nicht mehr zu unterscheiden, Metapher und Fakten waren ununterscheidbar in den Überlieferungsschatz der Menschen und Institutionen übergegangen - und mit einem Mal entdeckte man nun, daß all das, woran man geglaubt hatte, die Bibel eingeschlossen, so nicht stimmen konnte. Es zerschellte an unwiderlegbaren Fakten, inmitten einer Welt, wo sich alles relativierte: denn mit einem Male weitete sich, in zahllosen Reiseberichten, verbreitet und vielgelesen, der Horizont, relativierte sich alles, von der Zivilisationshöhe bis zur Religion. Es gab Menschen auf der ganzen Welt, sie hatten Religionen, sie hatten Zivilisationen, die der europäischen sogar überlegen waren (China, Persien, Arabien).

Verzweifelt, in langen Kämpfen und Disputen, traten die Rechner nun gegeneinander an, bewiesen die einen, daß Moses doch im Jahre 4006 vor Christus, die anderen, daß alleine die ägyptischen Pharaonen 5500 vor Christus anzusiedeln seien, während die chinesischen Berichte Zeiträume von Jahrmillionen beanspruchten, weil sich die Herrscherhäuser entsprechend zurückführten. Abstruseste Theorien brachen zusammen, wurden belegt, widerlegt, aufgerichtet, eingerissen ... Mindestens siebzig Theorien waren bekannt, wie alt die Welt nun wirklich sei - 3740 Jahre? Oder doch 170.000, wie die Chaldäer beanspruchten? Galt denn doch Augustinus' Wort, daß im Zweifel, bei Unstimmigkeiten zwischen Bibel und menschlichem Wissen, der Bibel der Vorzug zu geben sei?

Man glaubte den Überlieferungen nicht mehr - das war das erschütternde Fazit. Zunehmend galt nur noch das Heute, und Visionen und Ziele wurden ins Morgen verlegt. Die Traditionen aber wurden entsorgt, die Autoritäten - und es war vor allem die katholische Kirche, die sie repräsentierte - abgelöst.

Während man sich auf die historischen Forschungen stürzt, um endlich Gewißheiten zu schaffen. Leibniz schreibt eine gigantische, penibelst mit Dokumenten und Schriftstücken belegte Historie der Hannoveraner'schen Herrscher, neue Wissenschaften entstehen, wie die Münzkunde. Während die Historiker weiterhin die Nase ob der unnötigen Details rümpften, denn sie schwelgten in ihren Deutungen und Theorien - immerhin IST eben Geschichte eine These der Ursachen und Wirkungen, und keineswegs Erbsenzählerei, wie die (vermeintlich!) festen Wissenschaften.

Und der Ruf immer lauter wird, das Alte, das doch so ungewiß und ungewußt ist, zu vergessen. Bis in Rousseau überhaupt der Eintritt in geschichtliche Kontinuität eine Verfälschung des Guten, Wahren, Schönen wäre - er sieht die Welt am geschichtlichen Nullpunkt. Er bricht somit einem "historischen Autismus", wie der Romanist Horst Friedrich es nennt, einem Bruch mit der Umwelt, die Bahn. Bald wird aus der persönlichen Pathologie eines Einzelnen die Haltung eines Zeitalters.



*020610*