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Mittwoch, 9. Juni 2010

Frage der Nähe

Wenn im Theoretischen auch gilt, daß das Ausgehen von Begriffen nur zu Mittelmäßigem führt, weil die Vortrefflichkeit des Denkens sich nicht nur in der Anschaulichkeit der Gedanken, sondern in deren Gründung in Anschaulichkeit erweist, weil diese fordert - in der praktischen Vernunft verhält es sich umgekehrt.

Hier ist das Humanum genau darin zu suchen, sich NICHT vom Einzeleindruck und der darin liegenden Anwegung wegreißen zu lassen, wie das Tier. Sondern das Motiv im Allgemeinen wurzeln zu lassen, es auf einen immer allgemeineren Begriff zurückzuführen, gereinigt um Triebe und Begierlichkeiten aus der Ausschnitthaftigkeit eines momenthaften Eindrucks, der das Insgesamt vergißt wie man mit einem Teleskop nur einen Ausschnitt der Welt näher betrachtet.

Hierin liegt das höchste Ziel der Tugend, schon gar weil alles Denken sich in Motiven gründet. Und diese Motive geläutert, zu einer Gesamthaltung des Menschen, auf das Ewige, das Ganze hin sein müssen, in der Erziehung und Selbsterziehung sich dazu formieren müssen.

Dazu ist aber auf jeden Fall notwendig, die eigene Begrifflichkeit aus dem Reich des (wie Schopenhauer es nennt) reinen Wortspiels, der reinen Wortlogik, herauszuführen, und in Anschauungen und Anschaulichkeiten zu gründen. So sehr die Allgemeinheit der Menschen sich nicht nur mit dieser bloßen Wortspielerei zufrieden gibt, sondern in schlechten Zeiten, und diese sind daran erkennbar, der bloße Wortdienst zum Maß des Geistes erhoben wird.

Also verlangt die Würde des Menschen, sich der Nähe - denn der Teleskop-Vergleich zeigt das Gemeinte: das Nahe, Ausschnitthafte hat größere Wirkkraft und vermag aus dem Insgesamt zu ziehen - sehr sorgsam zu bedienen. Schon gar, weil die Kraft der Tugend schwankt, und sei es durch Müdigkeit beeinträchtigt ist - keineswegs ist der Mensch immer in selber Verfassung. Da braucht es dann die Kultur der Gestaltung des Abstands, über die Formen des Umgangs, die Höflichkeiten und Rücksichten.

Ja auch einer Kultur des Vorläufigen, und des Vergessens! Wo Zwischenmenschlichkeit diese Möglichkeiten nicht mehr hat, wird sie rasch zur Gnadenlosigkeit einer jeden Augenblick verlangten Ultimativität des Soseins, und so wird sie unmenschlich. Weshalb es keine Frage ist, daß "Netzwerke" wie Facebook etc. in höchstem Maß unmenschlich SIND, umso mehr also nötig haben diese Menschlichkeit zu behaupten, weil in Lüge auszuarten ohnehin ihre einzige Möglichkeit bleibt, Zwischenmenschlichkeit zu gestalten. Denn zum wirklichen Spiel - das Selbstbesitz und Ernsthaftigkeit bräuchte - fehlt ja das Wesentliche, diese heutigen Näheformen sind deshalb kein Spiel, sondern verzweifelte Unernsthaftigkeit als letzter Ausweg: denn es bleibt nur noch Selbstauflösung und fast schon totaler Rollenverzicht, um Schutz und Flucht zu bieten.

Wer sich der Vernunft unterwirft, unterwirft sich die Welt. (Seneca)



*090610*