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Donnerstag, 21. Oktober 2010

Sinn des Opfers

Woraus die Dinge entstehen, dahinein vergehen sie auch nach der Ordnung der Zeit. Denn sie zahlen einander Buße für das Unrecht. (Anaximander)

Alles Existierende existiert auf Kosten von anderem. Es ist gewalttätig vom Wesen her. (Spaemann)

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Das heutige Gequatsche von Gewaltfreiheit - das die erbsündliche Verfaßtheit des Menschen übersieht, und von einem Paradies auf Erden ausgeht - ist nichts anderes als der Kampf gegen das Sein selbst, das seine Gestalt sucht, und diese nur mit Landnahme findet: durch Einbruch in bestehende Gefüge. Es ist der Versuch, dieses Entstehen zu behindern, das immer Licht in die Welt hinein spiegelt - um Freiheit für die Macht des Dunkels zu erlangen, dem nunmehr geopfert werden soll. Dies zu wissen belädt die Verantwortung mit notwendigen Fragen der Gewaltanwendung.

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Das Christentum denkt im Gedanken des Paradieses die Möglichkeit eines Lebens, das gewaltsamer Selbstbehauptung nicht bedürftig ist. Es denkt ferner, daß es dem Einzelnen und der Menschheit nicht möglich ist, dem fatalen Zirkel gewalttätiger Selbstbehauptung, nachdem er einmal etabliert ist, zu entkommen, außer indem der Einzelne jenem Menschen nachfolgt, der von Anfang an in diesen Zirkel (aus Verstoß und Wiedergutmachung) gar nicht verstrickt war, sich ihm aber freiwillig als "Opfer" überließ. 

Daß die Übernahme der Sündenbockrolle zugleich die Intention der Opfergeschichte erfüllt, die Intention der Versöhnung der Gottheit durch Wiederherstellung des Gerechten, das setzt freilich voraus, daß dieser Mensch nicht nur einer unter anderen ist, sondern die Inkarnation des göttlichen Logos selbst, der seine endliche Existenz stellvertretend preisgibt. 

Robert Spaemann "Zum Begriff des Opfers"

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Dem Utilitarismus, dem heutigen Zweckdenken, steht das Opfer unlösbar gegenüber - es ist nicht argumentierbar. Es ist einfach - DA. Im Bedürfnis nach Wiederherstellung einer Bilanz, die der Mensch im Transzendentalen, in der absoluten Gerechtigkeit ahnt und weiß. Eine Einbuße - die Untat, die empfangene Gabe (im Dankopfer) - soll durch eine andere, freiwillige Einbuße ausgeglichen werden. Wobei es nicht einmal um die Adäquatheit der Gabe geht, sondern um die subjektive Entsprechung der Tat (im Verzicht). Denn es geht um die Wiederherstellung der Ehre vor dem, demgegenüber die Bilanz unausgeglichen ist, und in seinem Maßstab.

 
*211010*