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Freitag, 19. November 2010

Augenblickstugend

Der Unterschied zwischen Mystiker und Dichter? Der Mystiker, schreibt Bremond, nennt Gott, dem er begegnet, beim Namen - der Dichter kehrt sofort zurück, und sucht Bilder und Phantasien, die von dem berichten, was er soeben erfahren hat, auf daß es andere ebenfalls erfahren.

Denn der Mystiker, je echter sein Erfahren war, schweigt. Sein "Wort für andere" sein löst sich in Gott hinein, dem Wort, dem logos, auf. Er will wirklich mit Gott vereint sein.

Der Dichter will das nicht wirklich, er möchte nur davon wissen, davon berichten, und kehrt zurück. Er braucht keine Tugend, die über diesen einen Moment hinausgeht, ja sie ist für sein Handwerk hinderlich.

Es ist der Leser, der das Begonnene fertigknüpft, der in das Anfanghafte des Dichters eintritt, um weiterzuschreiten. Ihm gelingt das Gebet, das dem Dichter nicht gelingt, der ein Gebet formulierte, das nicht betet, sondern beten macht.

Der "reine" Dichter, schließt Bremond seine Untersuchung, hat nie gelebt, er ist ein Mythos. Ein großer Dichter kann ein frommer Mensch sein, ja sogar ein echter Mystiker, wie es der Heilige Augustinus gewesen ist. Aber selbst bei dem ist der dichterische Akt kein Akt des Glaubens oder der Liebe - er ist nicht religiösen Charakters, dient diesem nur. Und je poetisch-vollkommener der Dichter arbeitet, desto weniger ist er sogar mystisch, desto mehr aber sind seine Werke gebetsauslösend, und zwar instantan gewissermaßen, nicht wie bei einer Predigt durch späteres Nachdenken.

Er stößt die Seele an, wodurch diese in jene Seelenmechanik gerät, die nur noch die helfende Gnade Gottes braucht, weil sie irdisch bereits weit geht. Selbst wenn der Dichter Gott lästert - er tut es als Mensch, nicht als Dichter. Denn das poetische Erlebnis versagt sich der Gotteslästerung, ebenso wie dem Gebet. Die Seele aber ahnt in der Katharsis der Poesie von der Herrlichkeit jenseits des Grabens, der sie davon trennt. Deshalb ist die Poesie niemals nur sinnlicher Genuß! Sie ist vielmehr die Erregung der Seele ins Höhere hinein, die sich bereits im Diesseits der Freuden des Paradieses bemächtigen möchte. Völlig unabhängig vom Stoff, der behandelt wird.

Jede Schönheit, sagt Jacques Maritain, trachtet von sich aus danach, uns mit Gott zu vereinen.

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Bremond faßt selbst seine Aussagen zu "Mystik und Poesie" zusammen:

  • Es gibt noch einen anderen Gedanken, als den urteilenden und zergliedernden, eine andere Erkenntnis als die begriffliche und verstandesmäßige.
  • Weder die wirkliche noch die verstandesgemäße Erkenntnis, die sich im übrigen nur in einem Zusammenspiel entwickeln, können ihre Vollendung erreichen, ohne die Fähigkeiten ins Spiel zu bringen, die das mystische Leben in übernatürlicher Weise verwendet.
Daher das Außergewöhnliche, und gleichzeitig unvollkommene des poetischen Erlebnisses: Es ist Anfang und Ausgangspunkt eines höheren Erlebens, das es in gewisser Weise herbeiruft, zu dem es aber von sich aus nicht führen kann, das es sogar hemmt.

"Es ist unvergleichlich leichter zu lieben, wenn man schweigt, als wenn man redet. Das Suchen nach Worten schadet der Regung des Herzens sehr, die hierdurch stets etwas verliert, wenn sie sich nicht für ihren Verlust durch den Gewinn, den andere daraus ziehen, entschädigt fühlte. Wenn man nichts anderes verlöre als weniger zu lieben, und mit mehr Zerstreuung und größerer Gefahr, so ist der Verlust groß, wenn man den Wert der Liebe kennt."

 
*191110*