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Sonntag, 14. November 2010

Gewußtes als Identitätsproblem - I

Der stärkste Zwang ist der, schreibt Ludwik Fleck an einer Stelle, dessen Gewalt gar nicht mehr bemerkt wird, weil sie als selbstverständliche Notwendigkeit gilt. Besonders deutlich wird er in Denkkollektiven, weil der intrakollektive Denkverkehr spezielle Abhängigkeitsgefühle hervorruft, und somit zur automatischen Verstärkung der Denkgebilde führt. Je länger die Vermitlung eines Gedankens innerhalb eines Denkkollektivs bereits dauert, desto sicherer erscheint er, unabhängig vom Rationalitätsgrad seiner Entstehung.

Wer sich innerlich gegen eine solche Kollektivansicht sieht, erlebt sich in Angst und Furcht vor Ausgestoßenheit, weshalb er unweigerlich dazu tendiert, sich dem Kollektiv zu fügen, das ihn mit völligem Umverständnis (=Hölle, Anm.) strafen kann und wird. Je differenter Denkstile sind, desto mehr kommt jeder Gedankenverkehrt zum Erliegen. Fleck weist auch darauf hin, daß Denkkollektive - selbst wider besseren Wissens - schon rein aus Selbsterhalt fremde Denkstile (bis zur Existenzvernichtung) bekämpfen.

Diese interne Semantik bestimmt auch, welche Probleme überhaupt gesehen, als Fragen definiert, und welche als unerheblich ignoriert werden - Denkstile könnte man ja auch als "Bereitschaft für gerichtete Wahrnehmung" bezeichnen. Dabei gibt des sich nähere, oder sich ferne Denkkollektive. Der allgemeine Pool an Denkstilen, der die Spezialgebiete in einer Art Schnittmenge in sich birgt, sollte im Normalfall der Denkstil der Allgemeinheit sein, das was man als "gesunder Hausverstand" bezeichnet.

Fleck zeigt, wie in Spezial-Denkkollektiven ursprüngliche Annahmen sehr häufig völlig anders gelagert sind, als die späteren Entdeckungen, die dann oft regelrecht zufällig, in sehr vielen Fällen ohne Bezug zum Ausgangspunkt entstehen, und nur mehr mit spezieller Semantik und Symbolsprache überhaupt verstehbar und nachvollziehbar, mit behaupteter Logik aber inkommensurabel sind. Das ist an Menschen beobachtbar, die mehreren Denkstilen zugehören, und in sich logische Widersprüche vereinen, die emotional gar nicht so empfunden werden, ja es ist sogar sehr häufig, daß Menschen sehr verschiedenen Denkstilen zu gehören.

Unvereinbar sind eher ähnliche, nicht so stark abweichende Denkstile - hier wird Abgrenzung viel deutlicher gefordert, Fleck nennt dies "Grenzgebiet-Stil". Auch im Lösen von Problemen verwendet der Einzelne öfter völlig verschiedene Denkstile, als einander ähnliche. So, wenn ein Arzt ein Krankheitsbild einmal aus bakteriologischer, und zugleich aus kulturhistorischer Sicht betrachtet.

In jedem Fall verändert die Kommunikation das Kommunizierte: es wird also nicht Information hin- und hergeschoben, wie ein starrer Block im euklidischen Raum, sondern im intrakollektiven Raum wirkt Informationstransport verstärkend, im interkollektiven Raum abschwächend.

Hier kann es bis zu phantastischen Phänomenen kommen - Massenhalluzinationen, stimmungsmäßiges Gestaltsehen generell und weit verbreitet, wo weitreichendes Ausblenden, Nicht-Sehen selbst offenbarster Phänomene eintritt - und der (vogelschwarmartige!) plötzliche Umschlag, wo man plötzlich nicht mehr versteht, wie man etwas hat übersehen können. Kommt es zu Änderungen des Denkstils ist meist damit auch ein plötzliches Unverständnis der früheren Problemlage verbunden.

Genauso, meint Fleck, verhalte es sich mit den meisten wissenschaftlichen Entdeckungen. Denkkollektive "schaffen" sich in gewisser Hinsicht ihre Phänomene, auf die sie sich beziehen, selbst. 


Fortsetzung folgt)
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