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Samstag, 18. Dezember 2010

Damals wie heute

"Nicht die Frage, ob es vernünftig sei, die Existenz Gottes anzunehmen oder nicht, ist [für Fénelon] die letzte Frage, sondern die, wie das durch die Reflexion entfremdete Subjekt "vernünftig" werden, wie es ich in dem durch den kartesischen Zweifel eliminierten Zusammenhang wieder integrieren könne. 

Nicht der Beweis der Existenz Gottes ist der entscheidende Punkt, sondern das Problem des Entschlusses, zu dem die Seinsfrage unter den Bedingungen der sich emanzipierenden Reflexion notwendig wird.

Ausgangssituation Fénelons ist die Entfremdung, d. h. zunächst und für ihn: die Situation des Christentums bzw. des christlichen Individuums in einer Welt, in deren Kategorien es sich selbst nicht mehr begreifen und aussprechen kann und die es deshalb als gottverlassen verstehen muß. 

Die Worte Jesu am Kreuz "Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" werden für Fénelon so bedeutsam wir für Pascal die Agonie am Ölberg, die bis zum Ende der Welt dauert. Fénelons besondere Weise, das Problem, das hierdurch aufgegeben ist, zu lösen, wird deutlich in der Abhebung gegen die verschiedenen Versuche, die Entfremdung aufzuheben. Bossuet, der väterliche Freund und dann der "adversarius" schlechthin [der bewirkte, daß Fénelons Thesen später von Rom verurteilt wurden; Anm.] verkörpert den "konservativen" Versuch, die Entfremdung nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern durch eine Theodizee der Weltgeschichte, durch theologischen Klassizismus und durch Kirchenpolitik zu überdecken. Daß diese Weltgeschichte als Theodizee, als triumphierende Apologetik, bereits selbst jene Säkularisierung bedeutet, zu deren Bekämpfung sie entworfen wird, kommt Bossuet nicht zum Bewußtsein."


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So schreibt Robert Spaeman in seinen "Reflexion und Spontaneität - Studien zu Fénelon" zur Beobachtung, daß Fénelon in seinen Thesen sich direkt pädagogisch verstand. Damit erscheint der französische Erzbischof als Vorläufer einer Entwicklung des Geistes in Europa, die sich bis zum heutigen Tag ungebremst entfaltet hat, und die bereits im 17. Jhd. - in der Gestalt Bossuets, seines Gegenspielers, der dann "siegte", indem er der "Orthodoxie" zum Sieg verhalf, der Fénelons Thesen schlicht über das Gerüst eines undynamischen Dogmatismus, zur Waffe mißbraucht, brach - alle Weichenstellungen vorfand.

Aber noch etwas zeigt sich in dieser Auseinandersetzung, und Spaemann spürt es punktgenau auf: die Reaktion Bossuets ist deckungsgleich mit jenem Konservativismus, der - ob "Neo-" oder "Tradi-" - kein Mittel gegen die Verirrungen der Zeit ist.

Vielmehr ist der Weg, den Fénelon sucht und aufzeigt, so schmal, daß ihn nicht links, nicht rechts, zu finden scheint. Es ist aber der einzig gangbare - denn Fénelon ist große Seele genug um die Wahrheit nicht zu verdrängen, daß das entscheidende Moment in der Existenzialität liegt, in der Begegnung mit Welt und Wirklichkeit an ihrem innersten Nadelpunkt. In Seelenläuterung und Klarheit. SO versteht Fénelon die Mystik, hier findet er sie als "gangbaren Weg" rückverlängert, von den Mystikern direkt ausgehend, mit deren Aussagen er alle Übereinstimmung findet, zu einer Grundhaltung des Lebens überhaupt. Hier wird Mystik als Grundhaltung des Christen sui generis identifiziert.

Bossuet, sein Gegner, vertritt den leider heute in den "Erneuerungsbewegungen" so fatal mißverstandenen Weg des Reflexivismus (als Erfahrungssimulation) und Theologismus, wie er an dieser Stelle schon so oft angeprangert wurde: wo das Reden von Gott zur Äquivokation wird, zum Logizismus, wo Worte innerhalb einer bestimmten Logik (und einer als magisch mißverstandenen Sprache) aneinandergereiht werden, ohne den Kern noch zu treffen, ohne diesen noch zu transportieren. Bossuet siegte. Und er stellte Weichen.

Aber es geht nach wie vor um die Überwindung der Gefangenschaft in sich selbst, um den Durchbruch zur Nadelspitze der Wirklichkeit. In den seither verstrichenen 300 Jahren wurde vor allem aber eines gemacht: die Pseudo-Welt perfektioniert, die zur Abwehr der wirklichen Wirklichkeit - und nur dort ist Gott zu finden - aufgebaut wurde und wird.

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Offensichtlich aber war in den 1950er Jahren das Problem bereits deutlich zu sehen, zumindest zu spüren. Denn nicht nur Spaemann hat es zum Ausgangspunkt seines Forschens gemacht, sondern auch später ihre Rolle spielende Philosophen wie Walter Hoeres ("Reflexion und Reflexivität"). Sie sehen in ihren Habilitationsschriften was auf uns zukommt, sie sehen die Entwicklung des in sich abschließenden inneren Erlebens, das letztlich ins Leere geht, und in einer subtilen Verzweiflung, samt ihren "Bekämpfungsmitteln" (Massendynamiken, Gruppendruck, etc., um das immer hermetischere, technizistischere Innen noch mit "Außen" und "Erleben" zu füllen) endet.

Wahrscheinlich war sogar DAS der Impuls ein 2. Vatikanisches Konzil einzuberufen. Als "pastorales", pädagogisches Konzil, das einen Ausweg aus der Starre und Unwirklichkeit und Entfremdung finden sollte. Fénelon hat es Jahrhunderte zuvor angerührt.

Er hat keinen moralischen oder moralistischen oder subjektivistischen Ausweg gesucht. Sondern er hat Blut daran geleckt, was es überhaupt heißt, Mensch zu sein. Denn was Fénelon darzulegen versuchte, und was ihn einerseits so populär, anderseits aber befehdet machte, war sein Bezug auf das Desinteressement der "amour pour", der reinen Liebe. Als letzte und unbedingte Norm des Menschseins.

Erziehung, Läuterung, wird damit zur Läuterung der reinen Liebe, als Grundhaltung der Offenheit, auf der aufruhend der Mensch im Leben Konkretion sucht und findet. Hier ist der Kernpunkt auch, in dem Vernunft vom Rationalismus befreit und verankert ist. Und wo sogar tradierte Moral wieder relevant wird - als Zaun und Markung, in keinem Fall als Spielball subjektiver Anwandlung, sondern gleichfalls als Prüfstein dieser reinen Liebe.

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Und plötzlich, ganz plötzlich, ist er da - der ganz ganz einfache, alte Volksglaube, der allen eigen und möglich ist. Der Glaube der einfachen Landpfarrer und Menschen. Als Weg einer Offenheit und eines Gehorsams, als Weg wirklicher Liebe, der "amour pour", der reinen Liebe.

Als Weg des Gehorsams, der alles zusammenschmilzt, in der Indifferenz zu dem, was tatsächlich erreicht wird, weil der Weg bereits das Ziel ist. Der gleiche Gehorsam, der den Wille Gottes wollen und erfüllen läßt, heißt den Menschen auch das "Noch nicht" hinnehmen.


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