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Sonntag, 23. Januar 2011

Seltsame Revolution

Am 9. November 1918, dem Tag, an dem der Deutsche Kaiser in Berlin abgedankt hatte, oder: worden war, waren auch in Württemberg einige Dutzend Männer und Frauen aus dem einfachen Volk ins königliche Schloß in Stuttgart eingedrungen, und hatten vor, alles, was nicht niet- und nagelfest und den Königssitz, der ja wie es nun hieß "Eigentum aller" war, zu plündern. Der König hielt sich in einigen rückwärtigen Zimmern verborgen. Soldaten gab es keine mehr, die für die alte Ordnung noch den Kopf hingehalten hätten, sofern sie überhaupt nicht noch im Felde standen.

Stuttgart - Schloß, Schloßplatz
Als die Menge in die königlichen Gemächer eindringen wollte, stellte sich der betagte Hausarzt des Königs mit hochrotem Kopf in ihren Weg, und brüllte im strengsten Kasernenhofton die Männer an, was sie hier zu suchen hätten, sie sollten auf der Stelle das Haus verlassen! Das wirkte tatsächlich, die jungen Männer machten verdutzt kehrt, und zogen von dannen, unter dem Gespött der mitgezogenen Weiber, die ihr Recht auf Beute einklagten.

Kaum waren sie im Hof angelangt, da humpelte ihnen ein Mann in dunkeler Pellerine und Schlapphut entgegen, am Arm eine rote Binde. In einer geheimnisvoll ruhigen, autoritären Stimme, die nie wirklich laut wurde, sondern offenbar das Befehlen gewohnt war, keinen Widerspruch duldete, forderte er sie auf, sich unverzüglich auf ihren Posten als "Volkswache" zu begeben. Er drückte ihnen ein Bündel roten Stoffs in die Hand, davon sollten sie - unter noch lauterem Protest der Weiber, die endlich ihre Beute am Schloßinventar einholen wollten - ihre Armbinden nähen, und er wies sie mit seinem Gehstock in den Seitentrakt.

Die Männer, in einem Zwiespalt von Geschmeicheltheit - sie waren ja nun an wichtiger Stelle! - und braver Pflichtbewußtheit zogen in die Gesinderäume davon, um sich befehlsgemäß zu adjustieren. Die Frauen folgten ihnen ohne zu zögern. Der Mann hatte so klar und bestimmt gehandelt, daß alle in ihm jemanden vermuteten, der der neuen Führung angehörte.

Mittlerweile hatten sich weitere 3000 Stuttgarter in einem Demonstrationszug Richtung Schloß bewegt, und marschierten unter den üblichen Parolen - die Macht dem Volke, etc. - auf den Sitz des Königs zu.

Als sich der Zug den Schloßtoren näherte, humpelte der - kleine, buckelige! - Mann auf sie zu, richtete sich auf, und brüllte mit einem mal: "Links um!" Die Spitze des Zuges stutzte nur kaum merklich, hielt aber keinen Augenblick inne, und ... folgte dem Kommando. Die Vordersten schwenkten befehlsgemäß, und ihnen folgend, zogen alle 3000 am Schloß vorbei.

Der Mann verschwand nun wieder, und zwar genau so geheimnisvoll, wie er aufgetaucht war. Erst nach Wochen wurde seine Identität geklärt: es war ein " stinknormaler" Bürger, ein einfacher Handelsangestellter, namens Gustav Esterle, der sich nie in seinem Leben mit Politik befaßt hatte, und nicht einmal erklären konnte, warum er sich so schützend vor seinen König gestellt hatte.

Wilhelm II. v. Württemberg
König Wilhelm II. freilich verließ noch am selben Abend Schloß und Stadt, um beide nie mehr zu betreten. Die Krone legte er 11 Tage später nieder, und nahm in seiner Abdankung Abschied von seinem Volk.

Wenige Tage später tagte zum ersten mal der Republiksrat - unsicher, ein wenig ratlos, denn eigentlich war man ja mit dem König recht zufrieden gewesen. Also verabschiedete man eine Dankadresse an das nun gewesene Staatsoberhaupt. "Die Regierung dankt im Namen des Volkes dem König, daß er in allen seinen Handlungen von der Liebe zur Heimat und zum Volke getragen war, das württembergische Volk vergißt nicht, daß der König mit seiner Gemahlin in wahrer Nächstenliebe stets edel und hilfreich gehandelt hat."

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