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Samstag, 19. März 2011

Erkenntnistod durch Internet

Sehr richtig stellt die FAZ in einem Kommentar zur Leipziger Büchermesse 2011 fest, daß die Entwicklung des Buchhandels - zur Internetbestellung, überhaupt zum Bestellwesen, und vor allem zum E-Book, wo ein Buch auf Mausklick bezahlt und heruntergeladen wird - zwangsläufig eine Verengung der Geisteswelt mit sich bringt. Zunehmend findet jeder Buchleser nur noch das, was er ohnehin kennt, wird nur noch mit seinen eigenen Vorlieben konfrontiert, die bedient werden.

Selbst wenn ihn Werbung durch Buchhändler erreicht, dreht sich die aufgrund der Suchsysteme der Buchhändler nur um die bereits bekannten "Interessen". Deren Suchmethode hat noch zu einen entscheidenden Mangel: sie bricht "Interesse" auf "information" herunter. Wir selbst führen uns an solchem Suchband also an der Nase herum, und bestimmen was uns interessiert nach bestimmter Art von "Information": nach Erkenntnis, die sich auf bestimmte bewußte Daten reduzieren läßt. So, wie wir uns bei Facebook und Konsorten auf bestimmte Kategorien einlassen, auf die wir uns herunterbrechen und unsere Ganzheit damit nicht nur aufgeben, sondern hinter den Vorhang drängen.

Oder - auch nicht besser, sogar noch auf Masse und kleinster gemeinsamer Nenner reduzierter - bewirbt aggressiv nach ganz anderen Kriterien, Kriterien des Buchhandels, der Marketingabteilungen, der Verlage, als jene, von denen wir uns sonst ansprechen lassen würden.

Auch Rezensionen, Empfehlungen lösen genau das Problem - und es ist eines, und schon das sagt viel aus, daß es kaum mehr als solches empfunden wird - nicht. Was fehlt ist genau das, was nur uns ausmacht, was nur uns bewegt, was nur wir so sehen und empfinden können. Und das wir deshalb nur finden, wenn wir direkt darauf stoßen. Denn ein Buch ist weit mehr als Information! Es ist ein physisches Ding, im Dienste einer ganz bestimmten geistigen Welt des Autors.

Das Bücherkaufen vor 10, 20 Jahren war dagegen ein fortwährendes Entdeckenm, schon alleine durch das notwendige Suchen. Man ging in die Buchhandlung, suchte, stöberte, ließ sich überraschen, und entdeckte Neues, von dem man nicht wußte - darum gibt es ja Literatur! - daß es das gäbe. Damit hatten auch weniger bekannte Autoren "eine Chance", gehört zu werden, vor allem aber hatten wir die Chance, uns bis in geheime, letzte, gar seltene Winkel ausleuchten zu lassen. So manches hat da der Bücherkäufer auch entdeckt, von dem er gar nicht wußte, daß es ihn danach gelüstete.

Der Verfasser dieser Zeilen selbst ist so ein Fall, er verdankt die wesentlichsten Anstöße solchen Überraschungen. Büchern, Autoren, Geistesrichtungen, Gedankenpfaden und -ansätzen, die er zuvor nicht kannte, und weil Autoren meist Ähnliches zeugen, auch über Literaturhinweise etc. kaum entdeckt hätte. Ja, die wesentlichsten Schübe auch jüngerer Zeit verdankt der Autor dieser Zeilen der physischen Präsenz bei einem Buchhändler, dessen physisches Angebot, in dem man ausgiebigst schmökern konnte, ihn Wege finden ließ, die seit Jahren bestimmende Richtung geworden sind.

Das Internet aber liefert im Wesentlichen nur, was wir bereits bewußt suchen. Freilich hat sich in wenigen Jahren die Ergiebigkeit eines solchen Besuches drastisch reduziert. Denn was an Buchläden findet man noch? Wo findet sich mehr als Massenware und -angebot?

Einzig Antiquariate sind deshalb noch reizvoll, nach wie vor. Sie erfüllen noch ähnlichen Zweck, wenn man sich damit tröstet, daß es nichts gibt, das nicht schon gedacht wurde. Daß man ein Wort in die Zeit hinein findet, das nur ein Zeitgenosse sagen kann und muß, das jede Ähnlichkeit noch einmal übertrifft, als "Kairos", das frelich können auch sie nicht ersetzen: in ihnen hängenzubleiben birgt also Gefahr.


Wofür soll dieser Zugriff schließlich gut sein, wenn wir nichts anderes finden als immer wieder den Rückweg zu uns selbst, wie wir nun einmal sind, unseren alten Interessen, unseren eingefleischten Überzeugungen? Was wollen wir wirklich: bestätigt oder verändert werden? Für eine Bestätigung ist das Internet genau richtig ausgelegt. Aber wenn wir uns verändern wollen, wenn wir die Herausforderung und Infragestellung suchen, brauchen wir eine Möglichkeit, uns auf den Weg des Zufalls zu begeben. Darum kann Fülle den Geist beschränken. Amazon mag die Welt für Sie kuratieren, aber nur indem es Ihre Interessen durchsiebt und Ihnen Variationen Ihrer alterprobten Themen zurückschickt: Ja, ich liebe Handke! Ja, ich wollte doch sowieso gerade dieses obskure Stück von Thomas Bernhard lesen! Ein Buchladen dagegen verlangt, dass Sie auf der Suche nach dem, was Ihnen vorschwebt, die Regale sichten. Sie gehen hinein, um Hemingway zu kaufen, und am Ende kommen Sie stattdessen mit Homer wieder heraus. Das Stöbern im Buchladen regt den Spürsinn an und bringt Überraschungen.
Das Internet wie auch Google Books haben es darauf abgesehen, die bekannte Welt zu versammeln. Die Buchhandlung dagegen will ein Mikrokosmos sein, nicht irgendein beliebiger, sondern einer, der uns – entsprechend den Prinzipien und Vorstellungen eines Türhüters – helfen soll, die Welt als solche aufzunehmen und zu betrachten. Dieser Unterschied ist alles. Wer eine Online-Suche startet, hat die Möglichkeit, entlang einer idiosynkratischen Route, die sich in Bruchteilen von Sekunden aus x Impulsen bildet, über die Oberfläche der Welt zu surfen und anzuhalten, wo er Lust hat, um gelegentliche Stichproben zu nehmen. Das ist nur eine Art beschleunigter Tourismus. Wer dagegen im Buchladen schmökert, macht sich an die Erkundung einer wohlüberlegten Sammlung dessen, was die Welt beinhaltet. Wohlüberlegt, weil Jahrhunderte von Denkern, Schriftstellern, Kritikern, Lehrern und Lesern den Wert dieser Auswahl begründet haben. Insofern scheint ihre kollektive Weisheit dem „neutralen“ Netz, seiner Nichts- und AllesWisserei, haushoch überlegen.

Adam Müller schreibt einmal, daß es die Literatur brauche, damit ein Gedanke zum Gedanken wird. Wir besitzen nur, schreibt er, was in die Sprache übergegangen ist. Nur was der andere versteht, verstehen wir auch. Eine Land, das keine umfassende, breitgefächerte Literatur hat, ist sich mit dem Denken selber weit voraus. Seine Lebenspraxis wird geschoben, kommt dem Notwendigen nicht hinterher, bleibt dumpf und triebhaft. Gerade auf die deutsche Literatur des 19. Jhds. meint Müller es anwenden zu müssen: und er beklagt, daß es in Deutschland zu keiner Ausbildung wirklicher Redekunst, als Kunst eben dieses Selbstergreifens, komme. Damit spielt Müller den Ball sehr wohl auch zu den Schriftstellern. Ähnlich wie die Analyse der FAZ zu den Buchläden:

Es gibt viele Gründe für den Niedergang der Buchläden. Schuld ist das Geschäftsmodell von Megamärkten. Schuld ist Amazon, schuld ist die schwindende Muße. Schuld ist ein digitales Zeitalter, das uns mit derart vielen schillernden Anregungen überflutet, dass dadurch unsere Fähigkeit zu ausdauernder Konzentration verkrüppelt. Man kann sogar sagen, schuld seien die Schriftsteller, weil man findet, dass sie nichts mehr produzieren, was die Kultur belebt und sich zu lesen lohnt. Wie auch immer, der simultane Vorgang ist eine historische Tatsache: hier der Niedergang der Buchläden, dort der Aufstieg des Internets. Ein Modell der Ordnung und Präsentation von Wissen wurde gekippt und durch ein anderes ersetzt. Für Buchhandlungen sind E-Books nur der Nagel im Sarg.

Dafür steigen gewisse Buchhandlungen auf, die das Buch wie Aktien bewerten, und wo Buchempfehlungen und -angebote den Charakter von Charts haben: sich nur nach Verkaufszahlen bemessen, nach ihrem Rang in Bestsellerlisten. Aber: was kümmert uns eine Bestsellerliste? Was kümmert uns, ob Amazon weitere Millionen Gewinn macht, und mehr sagen diese Listen kaum aus?

Ja, die Technologie ist in der Welt, und ja, es wird E-Books geben – aber warum unter Ausschluss von Büchern und Buchläden? Ist Bequemlichkeit für die Amerikaner wirklich das höchste Gut? Wenn man ein E-Book herunterlädt, lohnt es sich, einen Augenblick innezuhalten und sich zu überlegen, wofür man sich da entscheidet und was diese Entscheidung bedeutet. Wenn genügend Leute aufhören, in Buchhandlungen zu gehen, werden die Buchhandlungen schließen – nicht einige, sondern alle. Und das wiederum bedroht eine Reihe von Werten, die uns begleitet haben, seit es Bücher gibt.

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