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Montag, 8. Oktober 2012

Denken wie gedruckt

Der entscheidende Punkt, der die Kommunikatiosqualität der Sprache wirklich verändert hat, war, schreibt Walter Ong in "Orality and Literacy", war nicht die Schrift an sich. Keine Kultur hat Schriftlichkeit je anders verstanden, als Stützt der Mündlichkeit, nie wurde Sprache anders gesehen als letztlich mündlich. Und nur in Bezug auf diese kann sie blut- und lebensvoll werden.

Der entscheidende Punkt war der Druck! Solange handschriftliche Aufzeichnungen geführt wurden, als Manuskripte, war jedes Textverständnis eine Kommunikation mit dem Autor, und seine Gedanken und Poeme waren im Verständnis der Menschen keine abgeschlossenen "Werke", ihr "nie fertig werden" - von dem jeder Autor aus elementarer Schreiberfahrung berichten kann - war evident.

Mit dem Druck aber änderte sich dieses Verhältnis. Plötzlich wurden "Werke" final, endgültig, und eine völlig neue Rezeption, eine völlig neue Gedankenwelt eröffnete sich: die der Konfrontation mit Endgültigem. Und so begann der Druck - nicht die Schrift, nicht die Gedankenwelt (denn auch die Renaissance hat das Denken nicht erfunden, ihre Gedankenwelt war keineswegs "neu"), sondern der Druck hat unsere Kultur entscheidend zu verändern begonnen. Sodaß sich unsere Gegenwart nicht einfach nur aus ihrer Geistesgeschichte heraus verstehen läßt, sondern diese Geistesgeschichte selbst als Geschichte der Technik erscheint.

Plötzlich kamen Kompendien, Lexika, kamen Katechismen - sie haben das Verständnis der Spache, des Mitteilbaren entscheidend verändert. Auf einen knappen Punkt gebracht: mehr und mehr versteinert, und ein Mißverstehen des überhaupt Sagbaren, der Art des Sagbaren mit sich gebracht. Unser gesamte Denkweise ist mittlerweile davon geprägt.

Jeder Autor weiß, wie sehr er darum ringt, im Druck Aussagen zu finden, die immer noch besser gingen, ja die nie zu einem Ende finden. Und das ist auch das Wesen der Wahrheit - sie kommt zu keinem Ende, sie ist prinzipiell unerschöpflich, weil sich das Gesicht des Ewigen in jedem Augenblick, in jede Situation hinein ändert. Denn der Leser IST subjektiv, so wie es der Autor in jedem Moment ist. Jeder Text wird von jedem seiner Leser anders gelesen, jedem sagt er es anders. Im Druck erscheint aber das Wort in seinem nominalen Gehalt endgültig, wird der Text zum Ding an sich. Und DAS ist der springende Punkt.

Erst mit dem Druck auch kam die "Urheberschaft" im heutigen Sinn zum Tragen. Der gedruckte Text, vervielfältigt, in jedem Exemplar final, löste die Gedanken und Werke vom Autor. Aus einem Fließen der Sprache, die im Ganzen des Volksbewußtseins und -empfindens verankert war und sich von dort nährte, wo jeder Sprecher (ob Rhetor oder Erzähler, so wenig das trennbar ist) auf allgemeine Topoi zurückgriff, von ihnen genährt, an ihnen entzündet wurde - sodaß sich sein Schaffensempfinden dem des Schauspielers weit mehr annäherte, als dem heutigen Autor im allgemein verstandenen Sinn. Man schreibt, um aus einer Situation, die einen zur Reaktion bewegt hat, in eine Situation hinein etwas zu sagen, das sich in seinem Wesentlichen nur in der Poesie sagen läßt. Selbst Plato ist als Poet zu verstehen (wie überhaupt die Nähe der Philosophie zur Poesie, ja ihre Einheit im Grunde, nie in Frage steht), und er bedient sich auch der oralen Form als Struktur seiner Texte (und war strikter Gegner der aufkommenden Schriftkultur, weil er ihre Folgen sehr scharfsichtig vorhersah.) Erst mit dem Druck entwickelte sich auch die Aufspaltung von "Kunst" und "Diskurs", von Poesie und Reflexion, die noch in der ursprünglichen Rhetorik eins war.

In diesem Aufsplitten der Sprache ist es nur noch das Tüpfelchen auf dem i, daß sich mit der Reformation ein Textverständnis als "selbstevident" durchzusetzen begann - auf der Grundlage des Buchdrucks, des Drucks der Bibel! Und mit dieser Luther-Bibel vor allem setzte sich a-regional eine neue Sprache durch, das Neuhochdeutsche, wie wir es heute kennen, ursprünglich eine Kunstschöpfung aus den Kanzleien des Kaisers. Wie das Latein eine Sprache, die niemand als Muttersprache sprach.

Es ist kein Zweifel, daß aus diesem Konstellationsverständnis auch das Verstehen der Wirklichkeit und Welt als "logos" angesprochen wird. Wo alles Wahrsprechen, alles Sprechen, zu einem Durchklingen dieses Logos wird. Originalität in diesem Sinn gibt es nur in der Lüge, und weil diese untrennbar mit der Unfreiheit verbunden ist, dort erst recht nicht. Schönheit und Wahrheit eines Texts aber ist immer ein Entbergen, ein Entdecken, ein Freilegen des Lebens "als Gestalt in die Welt und als Welt" selbst.

Der springende Punkt in der Urheberschaft ist der dialogische Charaker des Logos. Der sich nicht "an die Allgemeinheit" richtet, sondern immer individuell ist, ja gerade darin seinen Ausdruck in der Wahrheit findet. Wenn, kann sich Urheberschaft also nur in diesem Punkt finden, und dort liegt ihre Leistung - als sittliche Leistung. Denn jedes Handeln ist ethisch.

Sonst könnte man gleich in die Interpretation des Internete als Kampfeld des Logos mit der Lüge betrachten, allgemein und von und für alle, niemandem gehörig. Eigentum kann deshalb auch hier nur mit Verantwortung verbunden werden, mit subjektiver Situation, aus der heraus Urheberschaft erst ihre Bedeutung erhält. Nur dort kann Kritik am Internet ansetzen. Und genau dort setzt auch das (gnostische) Grundbild jener an, die es im wesentlichen "erfunden" haben. Wo Einheit im Geist zur "allgemeinen Sprachwolke" wird, an der alle teilhaben, und die allen die Sprache und die Wahrheit gibt.

Denn gewiß aber ist ein Urheberschaftsbegriff überzogen und symptomatisch für den Rationalismus, der den Schaffensprozeß rein weltimmanent verankert, zu einem der Phantasie als Vermögen zugeschriebenen Willen mißdeutet, die Dinge aufeinander zu beziehen, ohne ihrem Logos zu folgen, ja der so oft sogar Irrationalität mit Poesie und Geheimnis verwechselt. Nicht das "unbedingt Neue" aber ist das Wesen des Eigenen, sondern die subjektive Haltung zu "etwas". Erst in ihr wird Sprache, Wort, historisch und aktuell. Nicht in der "Erfindung" an sich. Weil aber der Druck in hohem Grad normiert, Wort, Buchstabe austauschbar wird, bleibt dem Subjektiven immer weniger Raum - das sich dann in das Formalspiel, den originellen Gedanken ergießt.

Und erst vor diesem Hintergrund wird das Internet (als social media) in seiner Simulationsnatur verstehbar. Denn nie hat diese Erdung des Textes in der Mündlichkeit aufgehört, zu wirken, es ist eben der Sprachgrund. Jeder Schreibende weiß es, und ein Gutteil seiner Probleme wurzelt ausschließlich in dieser Problematik - der Spannung zwischen gedrucktem Text, auf den hin er produziert, und dem eigentlichen Ort der Sprache, der persönlichen Kommunikation, der Situation, ohne die Sprechen undenkbar weil sinnlos ist. Und diesen Grundbezug hat (als Kulturbewegung in der Romantik höchst vielsagend: als Reaktion darauf, daß die alten Ordnungen wirklich zu zerbrechen begannen) ein zerfallendes kulturelles Institutionengerüst neu aufbrechen lassen, aber er wurde unserer Zeit gemäß auf eine dramatisch pseudologische, zweitwirkliche Weise realisiert, die bereits selbst Folge dieser Art der Rezeption ist, wie sie dem Druck als Kulturtechnik fast zwangsläufig entspringt: als Abbild metaphysischer Verhältnisse, die von technizistisch verstörten, sich selbst entfremdeten Menschen selbst zur Technik rekonstruiert werden, die sich an ihren physikalisch-rationalistisch meßbaren Wirkungen bemißt. Eine Gesamthaltung, die endgültig das 18. und 19. Jhd. so entscheidend charakterisiert.

Das Wesen des Internet ist in sich technisch, sein Problem sind nicht die Inhalte. Und es ist eine historisch nachvollziehbare Reaktion auf die Tatsache der vom Buchdruck geprägten Struktur unseres Denkens in seinen zur Sprache (als Allgemeinheit und damit Abbild der Einheit ...) gehobenen Gestalten.



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