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Sonntag, 14. Oktober 2012

Der zweite Lungenflügel

Weil in der katholischen Kirchlichkeit der Begriff der Kirchlichkeit zum obersten Kriterium wird, macht der Begriff jede Äußerung des Lebens überflüssig, schreibt Pawel Florenski in seinem Zentralwerk, "Die Säule und Grundfeste der Wahrheit". Weil aber das Leben mit keinem Begriff kommensurabel sein kann, vollzieht sich alle Bewegung des Lebens unvermeidlich jenseits der vom Begriff bezeichneten Grenzen und erscheint dadurch schädlich, unduldbar. Für den Katholizismus (wie den Protestantismus, je in ihrem Grundprinzip) ist jede selbständige Äußerung des Lebens unkanonisch, für den Protestantismus ist sie unwissenschaftlich.

So könne man im Katholizismus den Fanatismus einer kanonischen Denkart erblicken, so im Protestantismus den nicht geringeren Fanatismus der Wissenschaftlichkeit.

Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirchlichkeit hingegen sei der beste Beweis ihrer Lebendigkeit. Denn das kirchliche Leben läßt sich nur lebensmäßig aneignen und erfassen - nicht durch Abstraktion und verstandesmäßig.

Dort, wo das geistige Leben fehle, sei etwas Äußeres zur Sicherung der Kirchlichkeit notwendig. Aber sie ist in sich Leben, ein besonderes, neues, den Menschen gegebenes Leben, dem Verstande unzugängig wie das Leben selbst. Sie ist früher als ihre Definition, und ist jenes göttlich-menschliche Element, aus dem sich im geschichtlichen Gang der kirchlichen Menschheit die Rangfolgen der Sakramente, die Formulierungen der Dogmen, die kanonischen Regeln und zum Teil sogar die fließende und zeitliche Ordnung des kirchlichen Lebens sozusagen verdichten und herauskristallisieren. 

Auf diese Fülle bezieht sich, so Florenski, die Prophezeiung des Apostels in 1. Kor. 11,19: "Es muß auch Meinungsverschiedenheiten unter Euch geben." Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung von Kirchlichkeit.

Nichtsdestowenigewr nimmt ein jeder, welcher nicht aus der Kirche flieht, schon durch sein Leben das einheitliche Element der Kirchlichkeit in sich auf und weiß, daß es eine Kirchlichkeit gibt, und was sie ist.

Die orthodoxe Kirchlichkeit kann nicht zergliedert, sie kann nur empfunden werden. Daher gibt es nur einen Weg, um sie kennenzulernen - sie zu erfahren. Katholisch oder protestantisch kann man auch aus Büchern werden, aber das ist wie ein Schwimmkurs am Boden, wo man die Bewegungen trainiert: ohne mit dem Leben in Berührung zu kommen. Um aber orthodox zu werden, muß man in das Element der Orthodoxie selbst untertauchen, anfangen orthodox zu leben - einen anderen Weg gibt es nicht.



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