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Mittwoch, 10. Oktober 2012

Individualismus als Mangel der Selbstwerdung

Der Individualismus der Gegenwart, wie er sich auch in impliziten wie expliziten pädagogischen Ansätzen wiederfindet, von Montessori bis zum plumpesten Antiautoritarismus, verkennt etwas Wesentliches: Wenn das Leben selbst sich in einem Einzelwesen selbst erfährt, dann ist das immer KONKRET und historisch, nie abstrakt. Sodaß dieses neue Individuum bereits in eine historische Situation eintritt, ja der Eintritt in diese Geschichte ist seine eigentliche Individuation.

Das heißt, daß dieses "Null",  von dem alle diese heutigen Ansätze ausgehen, gar nie existiert hat und existiert. Es gibt keine ahistorische Menschwerdung. Im Interagieren mit dem Vorgefundenen also, mit dem Vergangenen, in seinen Spannungen zur Zukunft hin, die aus dem hervorgeht, und nur dort vollzieht sich die Menschwerdung.

Ein Kind kann also nicht "aus sich heraus" die als "Kultur" bezeichneten Weisen des Lebensvollzugs entdecken, und sich so seine eigene originäre Lebensweise zusammenbasteln. Kein Invidiuum kann sich "aus sich selbst" hervorbringen, es kann "sich" bzw. dessen Inhalte (und nur darin ist es ein sich) immer nur empfangen. Das Kind wird - und das ist wahre Verwahrlosung, ja Mißbrauch, die Symptome sind sich erschreckend ähnlich, und nicht zufällig: die Erfahrensweise ist in ihrem Prinzip gleich: Erfahrung ohne Form - also einerseits auf sich zurückgeworfen, und anderseits wahllos aufnehmen, was ihm unter die Finger kommt, salopp formuliert. Dabei aber prinzipiell überfordert, auf eine Weise, fundamental unterfordert, auf eine andere, weil nicht in etwas hinein entwickelt, das ihm aus der historischen (Familien-, Orts. etc.)Umgebung konstitutiver Grund zur Existenz ALS BEZIEHUNG war.

Das betrifft nicht nur das legendäre "jedes Kind weiß, wann es satt wird und worauf es Gusto hat", sondern gleichermaßen das bloße Nachgeben auf jeweils gerade auftauchende "Wünsche". Erwachsenwerden heißt nämlich nicht, diese Wünsche zu verallgemeinern, sondern heißt, sie in die Ordnungskraft des Ich zur Perösönlichkeit zu integrieren - ALS Beziehung zur vorgefundenen Welt, auf der Grundlage des gerade in dieser Konkretwerdung empfangenen, zur Welt gesteigerten Lebens. Was heute als "Individualismus" verstanden wird ist also oft nichts anderes als Unfähigkeit zur Selbst-Seiung, die keineswegs

(Oder nur über zahllose Irrwege, mit viel Verzögerung, die ihn verändert hinterläßt, was nun ganz andere Probleme aufwirft - daß heute Menschen deutlich später erwachsen werden, Studienzeiten sich verlängern, etc. etc., ist ja nicht einfach eine folgenlose, meinetwegen teure - aber auch das - "Verzögerung", sondern kollidiert mit dem Faktor "Zeit und Adäquatheit des Lebensvollzugs" - alles hat seine Zeit - fundamental. Wer mit 28 noch kein eigenes Leben führt, wie heute längst üblich, zieht sich ganz neue Probleme an den Leib, dessen biologischer Rhythmus den Identitätsgegebenheiten, dem realen Platz in der Gesellschaft, voraus ist.)

Rolf Kühn spricht definitiv von einer Vortäuschung individualistischer Selbstschöpfung, die eine reine Illusion ist. Die radikale Passibilität des originären Lebensvollzuges wird vergessen. Und weist auf Kierkegaard hin, der schreibt, daß das Selbstsein einen "Bezug zum Absoluten impliziert. Ohne absolute Setzung einer Vor-Gegebenheit gibt es auch kein Selbstsein. Der Selbstvollzug des Individuums ist nur als Affizierung aus Konkretem möglich. Anders erstirbt regelrecht der Lebensimpuls. Das absolute Leben hat keine Vorstellungen und Bilder, nach denen es sich dann vollzöge, die Welt ist vielmehr die Konkretisierungen dieser Beziehungen aus jeweiliger Selbstübersteigung in sie hinein, in der daraus folgenden Formatierung zu Gestalten.

Über die Zusammenhänge zwischen Vaterhaß und -ablehnung, Ablehnung der Tradition als Geschichte, und dieser Gestaltwerdung als Akt der Selbstwerdung selbst (in der Identität, die in diesem Sinn gleichfalls ein passives Geschehen ist) wird gewiß noch die Rede sein. Hier bleibe es lediglich angedeutet. So wie über die Abgrenzung zum (hegelianischen) Allgemeinen als postularische Ideologie.



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