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Montag, 24. Dezember 2012

Als sich das Tempo verlor

Schon bald nach Kriegsbeginn im August 1914 hatte sich die Vorstellung der Generalitäten - der Alliierten wie der Mittelmächte - daß ein moderner Krieg eine Bewegungskrieg sein würde, in Luft aufgelöst. Binnen weniger Monate hatte sich die hektische Bewegung beider Seiten in die Katatonie unbeweglicher Frontlinien festgefahren.

Dazu hatte es unüblich viel geregnet, die Soldaten versanken in Schlamm und Wasser. Besonders die englischen Gewehre waren dafür anfällig, bei Sturmangriffen vermeldeten die deutschen Berichte auffallend viele Bajonettverwundungen.

Die Ausfälle durch Krankheiten und Fieber erreichten in manchen Truppenteilen 70, 80 Prozent, interessanterweise wenige Lungenentzündungen dabei.

Auf diesen Verlust an Bewegung (die einen enormen Blutzoll mit rund 2 Millionen Toten und Verwundeten auf beiden Seiten gekostet  hatte) folgte ein Effekt, mit dem niemand gerechnet hatte: die Bedingungen, unter denen beide Armeen zu leiden hatten, gewannen die Oberhand, wurden zur beiden Seiten gleichen Hauptplage. Und daraus entwickelte sich im Spätherbst 1914 mehr und mehr eine Empathie der Soldaten untereinander - von Feind zu Feind. 

Ausrüstungsgegenstände wurden getauscht - zwischen den Fronten! - hier ein Helmgurt, dafür eine Konservenbüchse Fleisch. Patrouillen im Niemandsland zwischen den Linien entwickelten einen Ehrencodex, demgemäß sie sich unter 30, 40 Meter nicht bekämpften, sondern "aneinander vorbeigingen". Scherze zwischen den Schützengrabenlinien waren an der Tagesordnung. Grabenvorstöße wurden mehr und mehr zu Ausrüstungsbeutezügen, teilweise waren die Soldaten an ihren Uniformen kaum noch auseinanderzuhalten: Deutsche wurden mit Kilt gesichtet, besonders beliebt waren englische Schafwolljacken und Stiefel, während deutsche Gummigaloschen gesucht waren. Kriegsmüdigkeit machte sich überall breit. Man begann, aufeinander Rücksicht zu nehmen: hielt sich jeder daran, hatten beide ihre Ruhe. Beschießungen zur Essenszeit waren verpönt. 

Man sang einander Ständchen, unterhielt sich. Bekannt war u. a. ein Bayer, der die Engländer regelmäßig mit seinen Jodelkonzerten beeindruckte. Sachsen setzten die deutsche Fahne auf Halbmast und hielten Tafeln in die Höhe, auf denen die Engländer gebeten wurden, abzuziehen, man wolle doch endlich Frieden. Beide Seiten schimpften jeweils auf ihre unfähigen Generalitäten, die immer noch von Entscheidungsschlachten und Offensivgeist träumten und die Soldaten von einem sinnlosen, enorm verlustreichen Angriff in den nächsten hetzten, mit fünfzig Metern Geländegewinn, die bei der nächsten Gegenattacke wieder verloren gingen. Fälle wurden bekannt, wo Soldaten ihren Offizier erschossen, der nicht bereit war, eine aussichtslose Position aufzugeben, um sich zu ergeben.

Man fühlte jeweils mit dem anderen.

Und so war das Geschehen auf allen Frontabschnitten stimmungsmäßig vorbereitet, das sich - während fast an der gesamten Frontlinie gespenstische Ruhe ausbreitete, nur selten wurde gekämpft - am Weihnachtsabend 1914 in einer nie gesehenen Fraternisation  abspielte. Speziell in Belgien und Nordfrankreich waren geschätzt drei Viertel der Frontabschnitte darin involviert: alliierte und deutsche Truppen ... feierten Weihnachten miteinander: redeten, machten einander Geschenke, teilten ihr Essen, sangen, oder beteten.

Erst gegen Abend des 24. Dezember 1914 hatte es  überraschend gefroren, und nach langen Monaten des Dauerregens war der überall schlammige Boden nun hart und begehbar. Sogar ein Hauch von Schnee war gefallen, und Nebel fiel ein. Das Land sah in der Dämmerung aus wie verzaubert, berichten Briefe.

Begonnen haben fast immer die Deutschen. Die z. B. Weihnachtsbäumchen (gegen strenge Verbote) mit brennenden Kerzen - ein den Franzosen völlig unbekannter Brauch - aus ihnen Schützengräben emporhoben. Oder "Stille Nacht" oder "Oh Tannenbaum" anstimmten. Erst waren die Engländer und Franzosen vorsichtig, denn die Deutschen waren angeblich seelenlose Barbaren, und man rechnete mit einer Finte, wenn sie "Don't shoot!" riefen, während sie die Bäumchen nach oben reckten. Man hätte nicht erwartet, daß sie Weihnachten überhaupt feierten.

Allmählich verlor sich aber das Mißtrauen, und die Soldaten riefen einander an, kamen erst vorsichtig, dann immer vertrauensvoller aus ihren Gräben, trafen sich im Niemandsland, und schüttelten sich die Hände. Kompaniekapellen stimmten Nationalhymen beider Seiten an. Spontane Chöre aus Soldaten sangen einander ihre Weihnachtslieder vor. Besonders bekannt ist der Fall des Opernsängers Kirchhoff, der in der Argonne, im Frontabschnitt der 130. Württemberger, "Stille Nacht" zu singen begann, und die Franzosen zu Begeisterungsstürmen hinriß, die immer neue Dacapos verlangten. An anderen Frontabschnitten hielten beide Seiten miteinander Gefallenen-Gedenkfeiern ab. Auch Banaleres fand sich: ein deutscher Zauberkünstler bezauberte englische Einheiten. Oder manche Offiziere sahen es als günstige Gelegenheit, die gegnerischen Stellungen auszuspionieren.
Oder da, wo englische Soldaten an einem Frontabschnitt entdeckt hatten, daß im gegenüberliegenden Schützengraben ein deutscher Friseur saß, der vor dem Krieg in England gearbeitet hatte. Nun standen sie Schlange, um sich von ihm die Haare schneiden und rasieren zu lassen.
Die Inhalte der erhaltenen Weihnachtspäckchen waren "Währung", reger Tausch setzte überall ein: deutsches Bier gegen die begehrten englischen Rindfleischkonserven, Tabak und Zigaretten (die Währung für jeden und alles) gegen Kuchen, Wein gegen Whisky. "Autogramme" waren begehrt, stolz schickten englische Soldaten Postkarten nach Hause, mit Unterschriften deutscher Soldaten. Ja, sogar Waffen wurden ausgetauscht, wie im Abschnitt der 4. englischen Division.

Daß Fußball (zumindest mit einem richtigen Ball) gespielt wurde, konnte nie wirklich belegt werden - eher ist dieses Gerücht Ausdruck zahlreicher Sehnsüchte und Träume der Soldaten selbst, vor allem der Briten, die in den meisten Versionen gewannen: 3:2 gegen die Sachsen.

Fallweise dauerte dieser Weihnachtsfriede bis Neujahr, ja in wenigen Fällen bis in die zweite Jännerwoche. Und überall war der Jänner bemerkenswert ruhig. Ein britischer Offizier schreibt an seine Lieben: "Der Jänner war äußerst ruhig, und wir hatten viel zu tun hatten angesichts der deutschen Abneigung, uns anzugreifen."

Die französische Armeeleitung beschloß, solche Vorkommnisse in ihren offiziellen Berichten nicht zu erwähnen, man findet nur "Waffenruhe" vermerkt. Weshalb es heute aussieht, als wären vor allem jene Abschnitte betroffen gewesen, wo sich englische und deutsche Truppen gegenüberlagen. Deutsche, vor allem bayrische Berichte aber zeigen, daß die weihnachtliche Verbrüderung der Feinde auch dort häufig, und sogar sehr intensiv war.

Als das Tempo verloren ging, begann die menschliche Vernunft wieder einzukehren. Die Parolen und Propagandasätze, der Wahn der Vorkriegszeit mit ihrem Ruf nach Veränderung, nach einer neuen Zeit, verschwand aus den Köpfen, und die Menschen sahen wieder, was sie sahen, und urteilten aus ihrem eigenen Verstand heraus, den der Krieg noch nicht genug verwüstet hatte, der mit der Langsamkeit, dem Bewußtwerden des Bodens, wiederkehrte. Zum letzten mal.



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