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Mittwoch, 19. Dezember 2012

Herausfordern - nicht fördern

aus 2008) Eine der Fehlentwicklungen und Pervertierungen der an sich richtigen Sichtweise der Pädagogik - der Erziehung an der Formung zum Sein, im Positiven also, nicht im Antinomischen, Korrigierenden - ist, einen Menschen im Zuspruch völlig auf sich und jene Kräfte zurückzuwerfen, die aus ihm selbst kommen sollen. Denn diese Kräfte werden nur wirklich und sichtbar, indem sie sich mit dem Herangetragenen vermählen.

Die entelechialen Kräfte des Menschen sind maßgeblich und gestalterisch antwortende Kräfte, sind dem Willen (und damit dem Herzen) entstammende Reaktion auf den Eros des Begegnenden, das nach Ergänzung ruft. Das, was man "Selbstbewußtsein" nennt, ist eine Folge immanenter Vollzüge ist, die sich im laufenden Erfüllen von (auch kleinsten) Aufträgen vollziehen, also einer Haltung des Gehorsams (die eine Haltung des Sterbens, des Kreuzes ist) FOLGEN. Wirkliches Selbstbewußtsein entsteht immer nur durch die konkrete hingebunsvolle Erfahrung, es ist nicht vorweg ansammelbar, um dann wie von Vorrat davon zu zehren, und es ist auch nicht im Vorhinein als Gestalt selbst gegeben, die sich von selbst erfüllt. Es ist so das Derivat der Jahre des Handelns, ausgeschmolzen und geläutert.

Unter dem Titel "Förderung" aber hat sich eine Haltung festgesetzt, die nicht die organische Entfaltung einer Begabung im Gesamtbild einer historischen Persönlichkeit sucht, sondern eine dem Krebsgeschehen ähnliche Züchtung von partieller Grenzenlosigkeit und damit Neurotik (das Ziel des Handelns ist nicht der immanente Ursprung). Deshalb auch die sehr humoristische Art, wie mittlerweile mit dem Phänomen "Hochbegabung" umgegangen wird.

Vielmehr geht es darum, im Menschen jenen Willen, jene Kraft zu wecken, die ihn dazu treibt, sich gebraucht wissend, in die begegnende Welt hinein zu entfalten, ja sich auch gegen Widerstände hin zur historischen Gestalt zu entfalten. Und es geht darum, und zu allererst darum, ihn seinen Platz in der Welt finden zu lassen: was zwangsläufig seine Relativierung mit sich bringt (nicht die Verabsolutierung, die heute geschieht): im Antworten auf konkrete Herausforderung. Nicht im Sammeln von Kraft auf ein abstraktes Ziel hinGebrauchtheit gibt es nicht ohne individuelle Antwort auf Bedarf, auf etwas Fehlendes, auf Leid und Schmerz. Deshalb heißt die Entwicklung einer Begabung immer auch Überwindung von Schmerz, ja sie IST die Überwindung: ihr Material ist aus dem real Begegnenden genommen, das erst macht sie wirklich. Und sie braucht die Einbettung in das Insgesamt einer Person, die auf die Zeit als Ganzes bezogen ist.

Entwicklung ist immer ganzheitliche Antwort auf einen subjektiv erlebten Widerstand, der sich aus der jeweiligen konkreten Situation ergibt, in allen subjektiven Gesichtern und ambivalenten Vermischungen. So erst bleibt sie eingebunden in den immer immanenten Sinn eines Ganzen, der besteht, solange man nicht danach fragen muß. Nur so bleibt sie im gebrauchten und damit gerechten Maß. Wer Förderung als Beseitigung von Hindernissen versteht, wirft den Menschen auf sich zurück, nimmt ihm den eigentlichen Antrieb, die zentrale Kraft der Selbstverwirklichung des Lebens, die zu leeren "Einzelbegabungen" fragmentiert wird

Deren "Erfordernis" von einer Generation erhoben wird, die nur aus den Ergebnissen ihres eigenen Lebens zu lesen sind, als Bilder des eigenen Leids, als Folge eigener Fehler. In den Förderungen verbirgt sich also ein brutaler Egoismus, der die kommenden Generationen nach dem eigenen Bild formen will. Und wo er das verweigert, vorgeblich aus "Großmut", zieht er sich einfach aus der Verantwortung zurück, ins Irrationale, fördert "alles", ohne zu wissen, was. Weil wir ja so "offen sind". Begabungsförderung in der heutigen Form ist aus ihrem Wesen heraus also entweder konservativ und starr, oder verantwortungslos. Wo man den Nachkommenden die Last umhängt, die eigenen Probleme zu lösen. Und damit erst recht der Zukunft den Weg verbaut. Die geradezu hysterische Suche nach "neuen Ideen", die man der Jugend herauspressen will, übersieht zudem den entscheidenden Moment, daß diese Ideen erst im Konflikt mit der Gegenwart ihre adäquate Formung finden können. Weshalb wirklich "neue Ideen" so gut wie immer erst abgelehnt werden "müssen". Wer wollte sie beurteilen? Was wäre dann noch an ihnen "neu", wenn man sie gleich erkennte? Es gibt sie nicht, "DIE Ideen". 

Alle großen Ideen der Menschheitsgeschichte, alle Revolutionen sind eingebettet in einen geheimnisvolle verwobenen historischen Strom, der nach meist langer Entwicklung schließlich an einem Punkt, in einem Menschen, zu seiner Frucht kristallisiert. Oft genug hatte dieser Mensch diese "neue Idee" gar nicht zum ersten mal, oft genug hatten andere sie weit besser, weit früher ausgearbeitet. Gute Ideen lagen so gut wie immer "in der Luft", betrachtet man sie nachträglich. Und gar nicht selten war sie den Personen, die sie gefunden hatten, so natürlich vorgekommen, weil von so wenig persönlichem Leid getragen, daß sie jeden Willen missen ließen, sie auch vorzutragen, durchzukämpfen. Sie mußte sich eben immer erst zum persönlichen Schicksal verweben, und nahm deshalb oft ein sogar unreineres Bild an, als sie eigentlich hat*.

Der Förderungswahn der Gegenwart, wie Doderer es einmal nennt, läßt lediglich annehmen, daß man das wahre Bild der Zeit (und damit eines selbst) verbergen, gar nicht sehen will. Die ihre Antwort immer im Stillen gibt. Um Zukunft zu formen. Bildlos. Wirklich. Gebraucht. Denn jedes Leben ist ein Geheimnis der Antwort. Seine Gestalt ist die subjektive Art der Reaktion auf die begegnende Welt.




*Ein gutes Beispiel ist die Marx'sche Philosophie in ihren Anfängen. Marx hat das Element der Entfremdung des Lebens von sich selbst, in seiner Natur als Selbstwerdung in der Arbeit, in der Antwort auf einen Bedarf, ja selbst als Bedürfen, nicht "erfunden". Er griff auf viele Gedankenströmungen zurück. Diese Gedanken sind im Grunde nämlich sehr alt, finden sich im Mittelalter gar als Kern einer Philosophie, die in der Renaissance fatale Schlagseite bekam. Er hat sie wieder aufgegriffen, er hat sie neu zusammengeführt, schließlich aber selbst zur Ideologie deformiert. Und DAMIT, in ihrem Mißverständnis, fügte er sie zur dialektischen Wirkmächtigkeit in der historischen Entwicklung.



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Nachtrag: Der Vortrag (18 min) des Verfassers einiger populärwissenschaftlicher Bücher Steven Johnson auf "Ted" aus 2010 spricht (vermeintlich) Ähnliches an. Bei allen Vorbehalten - auch hier findet sich Geist zur Technik der Ratio umgebildet, Johnson baut auf einer Fülle von philosophisch-anthropologischen Postulaten auf, die "Ted" an sich bereits zum Irrtum machen, der im fluchhaften Ideenkomplex des "connected mind" (Internet) gründet - beschreibt er in seiner einer abbildhaften, zur Technik umgebrochenen Sichtweise das abstrahierte Gesicht von "Ideen": auf welcher Ebene sie als komplexe Verwobenheit in Vollzüge sichtbar werden. Sie sind keine "Blitze", die plötzlich einschlagen. Vielmehr sind sie konkrete Lösungen für spezifische, reale Probleme, ursprünglich oft ganz anderer Art, als sie sich später dann anwendbar zeigen. Aber hinter dem Gedanken, daß "Ideen" immer in ein network eingebunden entstehen, zeigt sich immerhin diese Verwobenheit mit Geschichte und persönlichem Schicksal. Johnson interpretiert diese richtige Erscheinung also nur falsch: eben technizistisch. Und DAS liegt ein seiner Persönlichkeitsstruktur begründet. Ideen sind eben Ausfluß der Persönlichkeit. Sie erzählen nicht einfach Sachstrukturen, sie erzählen immer vom persönlichen Umgang mit einem erlebten Problem. Die Intention, die Wirkweise einer Idee liegt oft also auf einer ganz, wirklich ganz anderen Ebene, als sie inhaltlich vorgeben möchte. Materiale Inhalte dienen ihr vielmehr.







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