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Sonntag, 17. Februar 2013

Freiheit, Kreuz, und Ende

Aus 2009) Man muß oder kann Toynbee nicht in allem zustimmen. Zu deutlich stammt sein Moralbegriff protestantischen Quellen, ist er Kantianer im Verhaltenscodex (richtiges Handeln als vernünftig notwendiger, positivistisch zu setzender, sonst aber nicht weiter begründbarer, nur postulierbarer Schluß) und Hegelianer in der Geschichtsauffassung (Geschichte als dialektischer Entwicklungsprozeß einer so sich je an sich selbst vorantreibenden allumfassenden Weltvernunft, in der alles Faktische seinen "Ewigkeitswert" als es selbst schon nur durch sein Dasein trägt, es also historisch kein "richtig" oder "falsch" gibt).

Während die aristotelisch-thomistische Metaphysik (meist völlig miß- und unverstanden als statisches Wirklichkeitskonstrukt) die Geschichte als Ringen des Ewigen mit dem Begegnenden, wo sich (als actu des potens) wie eine Blüte aus dem Schlamm (ein buddhistischer Vergleich, übrigens) stets nur das Sein selbst als tragend, das Faktische als Maß seines real gewordenen Actu zeigt, durch das das Sein selbst, sorgsam herausgeschält, sich erzählend mitteilt. Sodaß das Wahre nicht historisch "immer in der Mitte" (metaphorisch gesagt) bleibt, sondern die Geschichte sehr wohl zu faktischen Irrwegen führen kann. Die nur verständlich werden, versteht man über allem Faktischen die wirklichen Konflikte, das wirkliche Ringen des Seins um Wirklichwerdung einerseits, und ... die Kraft, die aus Schwäche oder Bosheit dieses Sein, in oft sehr komplexen Gemengelagen, mangelhaft macht, und so die Form verunstaltet.

Wahrheit in der Geschichte, in der Gegenwart, ist also durchaus als "reines" Problem der Schönheit und der Gestalt ansehbar. Das Problem der Moral ist also letzthinnig ein Problem der Liebe zur Natur, zur Schönheit - und damit: der Liebe zu Gott, dem Sein, dem alles entspringt!

"Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben und verehren ..." und: "Du sollst den Nächsten lieben wie Dich selbst!" In diesen Geboten ist alles enthalten. Und Jesus sah, daß jener gut geredet hatte.

In seine Geschichtssicht also muß man Toynbee mit Vorbehalt genießen. Aber es lohnt auf jeden Fall, sich seinen Fragen zu stellen, denn sie sind oft richtig gestellt.

Und so frägt sich Toynbee in seinen Grundwerken immer wieder, ja diese sind sein Zielpunkt, das Motivans seines Forschens, in welchem Stadium, in welcher Phase wir uns HEUTE befinden. Natürlich geht Toynbee der Frage zuvor nach, ob man überhaupt von einem Niedergang, oder gar Verfall, unserer Kultur sprechen kann, klärt, was unter dieser Kultur überhaupt zu verstehen ist, befaßt sich also mit einer Morphologie der Geschichte und der Kulturen.

Dabei ist augenfällig, daß Toynbee von den Ereignissen 1939-45 sowie vom Kalten Krieg deutlich beeinflußt ist, und zwar ... in einem Optimismus, der manchmal überrascht. Erst in seinen späteren Werken ist er ernüchtert von den Erfahrungen der Jahrzehnte bis in die 1980er Jahre, ohne aber diese Spätphase unserer abendländischen Kultur dort anzusetzen, wo (mit Verlaub) ich sie sehe - im Brechen des Höhepunkts, im Hochmittelalter, das in die Renaissance hinein - an sich selbst letztlich! - zerschellt. Seither fährt diese Kultur eine Schleife, und kehrt allmählich an ihren Ausgangspunkt zurück.

Aber nicht als Wiedereinstieg in die Ganzheit des Mittelalters. Dazu fehlt es an jener in Jahrhunderten errungenen Sittlichkeit der Einzelnen. Wir stehen vor einer Ganzheit als Folge eines Verzichts und Verlusts menschlicher Vernunft. Entsprechend leben wir mitten in aufgeblühten Sumpfgewächsen, Verfalls- und Modergerüchen.

Blühen rundum "Gemeinschaften", Communities und Partnerschaften auf, die allesamt auf dem Versprechen basieren, über ihre jeweils spezifischen wahren Probleme und Lücken, die zu überspannen (um nicht zu sagen: umzulügen) ihre Aufgabe ist, nicht zu sprechen - und sich daraus meist sehr exakt, ja oft regelrecht wörtlich, definieren.

In Esoterik und Obskurantismus, in den Irrationalismen gerade der heutigen "Rationalismen", in sich als historisch neu ausgebenden (und sich genau darin fast amüsant als historische Begleiterscheinung mit beträchtlichem Wiederkennungswert offenbarende) Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen, egal welchen Couleurs, die allesamt das Ewige, die Heilsgnade, vorgeben zu besitzen, in historisch gebotenem Gewande zugängig zu machen. Wo Ganzheit simuliert wird, indem der Boden des Handelns auf die subjektivierte Aktualität des Befindens, die faktische Befindlichkeit, reduziert wird. Und in einer fast unüberschaubaren, ineinander verschränkten Mannigfaltigkeit an Formen von Selbstbetrug und Vernebelungen (wer hat noch nicht in die Augen von "Irren" geblickt, hinter denen beeindruckend klar der kluge Schelm, aber auch die hinterhältige Fratze dessen hervorblitzt, der genau weiß, daß er sich in einer Entscheidung dem Wort und der Kultur entzieht) - an Feigenblättern, hinter denen wir uns vor dem Sein zu verbergen meinen.

Ein Persönlichkeitsboden, dem es aber an sittlicher Kraft fehlt, der also nur von sich behaupten kann, Boden des Handelns und Denkens zu sein - in Wahrheit aber ein Bündel an Getriebenheiten ist.

Uns dies bewußt zu machen, uns klar zu machen, wo wir stehen, und uns damit auch von Fesseln frei werden zu lassen, die sich als einzigartig ausgeben, läßt uns also die Gegenwart und unser Maß an Unfreiheit verstehen. Und uns entsprechend reagieren! Denn wo immer wir uns historisch befinden, wie immer diese Epoche im Rückblick, in fünfhundert, in tausend Jahren, eingeschätzt werden mag, steht über unserem Leben die Pflicht, als Anzeige des einzigen Weges zur Geglücktheit unseres Daseinssinns, unsere wahren Kräfte zu wecken und unsere Gestalt, so gut es historisch geht, zu wirklichen. Denn Leben bedeutet Darstellung. (Bild: Stiftsbibliothek Admont, Steiermark) 

Und so wird gerade die Befassung mit unserer Kultur, in ihren überlieferten Zeugnissen und Niederlegungen, in ihrer Kunst, in ihrer Geistigkeit der Literatur(en), zu einem Ausloten der eigenen inneren Räume. Denn Irrtum und dämonischer Irrationalismus, Sprachzerstörung und Gedankenverführung in der Ideologie, in dem Fühlen und Fürchten verhängten Rechtfertigen (anstelle des Denkens) und Halten in der Existenz, ist ein Verhängnis des Zugangs zu unserem wirklichen, inneren Kern. Und verhindert so, daß wir uns von den Getriebenheiten befreien, indem wir uns (zunehmend) ganz besitzen. Und jeden Augenblick Herr unseres Handelns und Daseins sind.

Daß gerade jetzt und in dieser Phase das Kreuz unter Diskussion gerät, zeigt eine ganz überraschende Richtigkeit, weil es diese Basis allen menschlichen Lebens und Gelingens wie Selbstbesitzes ins Zentrum schiebt: die Selbsthingabe an einen Sinn, der aus der Erfüllung einer Gestalt sich ergibt, die in Lauterkeit erkennbar wird, und auf die sich alle Lebenserfüllung im Glück, aber/und auch als Verpflichtung ergibt. Nur, und zwar wirklich: nur, im Kreuz läßt sich auch heute Leben wirklichen, so kann es auch heute gelingen. Es macht uns bewußt, daß wir aller Unbill niemals unterliegen, indem wir ihr versklavt sind, sondern das Kreuz ist das höchste Zeichen und Symbol der menschlichen Freiheit! Die in der Verbindung mit Jesus Christus, die wir sohin über alle Zeit hinaus eingehen, zugleich den höchsten Sinn erfüllt. Auch indem es tröstet!

Denn das Kreuz ist das wahre Zeichen der Hoffnung! Nichts und Niemandem wird es in dieser Welt jemals gelingen, ein Paradies zu schaffen. Immer wird diese Welt ein "vallis lacrimosa" sein, bis zum Ende der Tage, bis zur Wiederkunft Gottes Jesus Christus. Weshalb der einzige Grund, über den Untergang des Abendlandes - und Oswald Spengler war ja nur einer der Ahner, der wirkliche Untergang vollzieht sich vor unsern Augen, und Spengler war Teil davon - Trauer zu empfinden ist, daß sich hier eine Kultur auflöst, die die Vervollkommnung des Menschen auf historisch einzigartige Weise zum Inhalt wie zum Gehalt hatte. Es geht nicht, absolut gesehen, um mehr oder weniger Migranten oder Sprache. Es geht nur um einen Weg zum Heil, der prinzipiell in jeder Situation gangbar ist.

Wenn es auch zu keiner Schönheit der historischen Gestalt absehbar mehr kommt, weil das Antlitz der Schönheit - schon über dem Pontifikat Johannes Paul II. lag der Malachias'sche Leitspruch "de labore sole = über die Mühe der Sonne" - sich zurückgezogen hat. Von diesem Schutthaufen, in dem wir leben, mehr verhüllt als entborgen wird. Und: alles lebt aus der Schönheit, auch wenn wir zu oft heute glauben und eingeredet bekommen, das wäre eine ästhetisierende Zusatzqualität des Lebens. Nein, es ist sein Grund. Und alle Sittlichkeit ist nur die Formung des Schöpflöffels, diese Schönheit, dieses Gold zu uns zu nehmen, um daraus zu leben.

Das Kirchenjahr geht in diesen herbstlich trüben Wochen zu Ende, erhöht die Lebensphase der Natur, die sich zum Sterben legt - mit dem Fest "Christkönig", das Fest des Jüngsten Gerichts, das Allerheiligen (logisch) folgt. Ehe die Geschichte neuen Anlauf nimmt - im Advent, in der Geburt Christi, am Tiefpunkt des Lichts in der Welt.

In dieser Dunkelheit ist zunehmend der Glaube gefragt, in der Treue, im Ausharren die Art unserer Verdienstlichkeit, dessen, was wir als Menschen beitragen können, um im Heil zu bleiben. Und um in der Hoffnung, oft, und wie oft, gegen alle Bedrängnis der Zeit, zu verbleiben.

Es ist kein Obskurantismus, wenn wir als Christen, als Katholiken, uns diese historische Gewißheit immer wieder vor Augen führen. Uns bewußt machen, indem wir mit dem Kirchenjahr gehen, daß unser irdisches Leben und relativen Wert hat. Daß wir uns jene seelische Qualität aber, durch eigenes Zutun, wenn auch nicht einfach aus uns selbst, die wir dann wirklich, als "konservierte" Form einer in der Auferstehung sichtbar werdenden Form, uns auf sein Wort hin erheben. Vorstellbar wie das Aufgehen des Samenkorns im Frühjahrsregen des immer nur einen Ostern, das (so wie alle Ewigkeit) immer wieder, Jahr für Jahr seine Fühler in die Welt reckt, und sich doch wieder zurückzieht. Uns aber auch bewußt machen, daß es ein reales Ende der Geschichte geben wird. So real, wir wir den Frühstückskaffee trinken, oder die Bombe fürchten. Nichts wird dieses Ende auf Dauer verhindern. Das Paradies hier - wird es in dieser Phase der Geschichte der Schöpfung nie geben. Erst ... nachher. In der verheißenen Neuen Schöpfung, der Neuen Erde. (Bild: Chartres, gotische Westrosette "Parusie")

Insofern also kann es keinen geschichtlichen Fatalismus geben, weil der Lauf dieser Geschichte, der Geschichte VOR der Parusie, der Wiederkunft Christi, endlich ist. Dieser Fatalismus wird nur im Alltag tragend, wenn wir uns Gottes begeben, wenn wir außerhalb jener Kraft leben, zu der wir durch Jesus Christus, einmalig und für immer, berufen sind. In dieser Kraft können wir selbst in scheinbar unausweichlichen Zyklusphasen - wobei dies auch Toynbee so sieht, hier darf man ihm nicht Unrecht tun, das hat er wohl begriffen - immer aussteigen. Denn nur im Zustand der Unfreiheit unterliegen wir scheinbar unausweichlichen Gesetzmäßigkeiten. Nur das Versagen hat Gründe und Techniken. Das Gelingen ist immer - Gnade und Geheimnis der Ganzheit.

Und deshalb ist das Kreuz das Zeichen der Hoffnung, in aller Geschichte, die sich so gesehen völlig relativiert, die Hoffnung auf volle Erfüllung unseres Strebens nach Glück nicht auf diese Welt richtet! Daß die für alle, ausnahmslos, reale Erfahrung des irdischen Leides nicht in Verzweiflung enden muß, sondern sogar einen Sinn hat. Daß wir darauf hoffen dürfen und sollen, daß ein Ende nur ein Ende des Schreckens sein kann, wenn wir das wollen. Und daß es eines Tages zu einer alles umfassenden Richtigstellung kommt, einer Rechtfertigung, die wir uns als Anrecht aber heute, im Ausharren, erwerben.

Wer das Christentum um diese Dimension verkürzt - und das ist heute häufig, besonders innerhalb der Kirche gar, vorgeblich, weil man den Erlösungsaspekt pädagogisch hervorstreichen möchte - nimmt ihm seine wahre historische Kraft, und deutet den Katholizismus zu einer lächerlichen Technik der Diesseits-Glücksgefühls-Produktion um, insofern eine zeitgeistige und in derselben Logik liegende Parallele zur Esoterik, die eine Funktionalisierung der Heilswirkungen versucht, dem Wesen der heutigen technisierten Seelen, dem Wesen der Unfreiheit gemäß, die Seelenleben tatsächlich zur Mechanik umzugestalten versucht. Aber es gibt auch im Heilsleben keine Garantie, weil eben keine Technik der Gnade, sondern Gnade bleibt immer ungeschuldet, bleibt Geheimnis. Aber Geheimnis ist eben prinzipiell nicht: Irrational.

Wenn wir heute, oder in diesen Tagen (der Novo Ordo hat das Fest auf den letzten Sonntag vor Advent verschoben) am Fest Christus König, dem eigentlichen Ende des Kirchenjahres und der Zeit, uns dem Ende zuwenden, so hat das seine absolute Richtigkeit. Und wir dürfen trauern, wir dürfen des Endes gedenken. Nur so wird uns gewärtig, was uns erwartet, nur so hoffen wir richtig: Auf seine Wiederkunft, auf die Rückkehr des Königs, in Macht und Herrlichkeit. Dann wird alles gut.

"So bist Du denn ein König?!"
"Du sagst es. Ja, ich bin ein König. Aber mein Königreich ist nicht von dieser Welt." (nach Joh. 18/37)




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