Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 5. April 2013

Ins Proletariat gefallen (1)

Das Bemerkenswerte an den Zigeunern ist, schreibt Riehl in seiner Soziologie (aus dem 19. Jhd.), daß sie ein merkwürdiger Sippen- und Familienzusammenhalt davor bewahrt, schlichtweg zum Proletariat abzusinken. Bietet man einem Zigeuner, so der Volkskundler, Unterschlupf, Unterkunft, nimmt man ihn auf, und sei es nur für eine Nacht, so hört die sprichwörtliche Diebesmentalität schlagartig auf. Er fühlt sich sofort als Teil der Familie, so entfernt das auch sein mag, und zeigt Solidarität. Weist man ihm aber die Tür, erfüllt er alle Vorurteile, die man ihm aus Erfahrung zuweist. Das zeigt, daß es nicht reicht, Proletariat einfach an bestimmten Tätigkeits- oder Seßhaftigkeitsmomenten festzumachen.

Vielmehr definiert Riehl den Prolatarier anders: Er beginnt nämlich erst dort, wo er ein Gruppenbewußtsein entwickelt, in dem er sich bewußt allen Ständen gegenüber und außerhalb sieht. Dann verliert auch die Familie ihre sittlichende Kraft, und wird bloß zu "Weib und Kindern", seine Religiosität verdunstet rasch.

Keine Tätigkeit an sich, auch nicht Armut vermag Proletariat zu schaffen. Der ärmste Bauer oder Bürger hat noch sittliches Bewußtsein, und trägt seine Armut, sieht sie als mit ihm in Zusammenhang stehen, und murrt nicht. Selbst sein Betteln wird zur notwendigen Tätigkeit, nicht zum Elend selbst, wie die wandernden Handwerksburschen beweisen, deren "Fechten" sprichwörtlich ist. Und auf die die Gesellschaft auch mit Verantwortungsbewußtsein (als Gebepflicht) reagiert.

Und Proletariat hat auch nichts mit dem "Arbeiter sein" zu tun. Ganze Branchen sind deshalb unter gewissen Merkmalen betrachtet zwar reine Lohnarbeit, aber sie sind patriarchalisch organisiert - wie der Bergbau - und jeder Arbeiter weiß sich als Teil eines Ganzen. Selbst der im 19. Jhd. häufige Bergbauarbeiter des Rheinlandes wurde nie zum Proletarier, noch früher zum Pietisten, weil die Gefahr der täglichen Arbeit hohe Religiosität hervorrief. Vielfach waren die Knappen Männer, die (wie sehr häufig bei Westfalen) bäuerlicher Herkunft waren, zuhause eine Frau und Kinder hatten, die sie aber nur einmal im Jahr, im Sommer, wenn die Hochöfen ruhten, sahen. Den elterlichen Hof hatte ihr älteres Geschwister geerbt, und sie hatten damit auch kein Brot. Aber diese Zugehörigkeit, die sich nur in wenigen Wochen im Jahr konkretisierte, genügte. Niemand ließ sich ins Bodenlose fallen, sie blieben verantwortungsbewußte Kollegen und Mitarbeiter, die einem Sozialgefüge zugehörten. Das nie verlorengegangene Standesbewußtsein der Bergbauarbeiter als Bürger oder Bauern zeigt sich auch darin, daß sie schon mit dem Ausgang des Mittelalters enorme Solidarität in Form von Renten- oder Sozialkassen an den Tag legten, oder reges Sozialleben, ja ein ausgeprägtes Kultur- und Festesleben pflegten - man denke nur an die Musikkapellen, oder die Prachtuniformen. Sie waren nie Proletarier.

Das Proletariat beginnt und begann erst dort, wo das Bewußtsein getragen ist, nirgendwo dazuzugehören, und darin ein "Selbstbewußtsein" als Notgriff und Gruppenbewußtsein aufzubauen. Dort, wo der Arbeiter fürchten muß, jeden Tag durch einen billigeren Arbeiter, oder durch eine Maschine ersetzt zu werden. Beginnt dort aber vor allem, wo er sich in Vergemeinschaftung begibt, und wirkliche Standeslosigkeit - und damit verbunden das Ablegen und Fehlen von Sitte, Brauch, Verantwortung für ein Gemeinwesen, ein Land, etc. - zu einer Art Gemeinschaftsethos macht. Dort erst beginnt auch das Bewußtsein, sich das zum Leben Benötigte "rauben" zu müssen, als Grundhaltung auch dem Betrieb gegenüber. 

Es ist deshalb schlichtweg falsch, schreibt Riehl, wenn man Proletariat als Fehlen von Produktionsmitteln oder Kapital beschreibt. Das zeigt sich besonders bei den frühesten Proletarierschichten - die aus dem Adel stammten! Defunktionalisiert, ohne Standesbewußtsein, begann von dort die allmähliche Vertiefung dieser Existenzform hinein ins Bürgertum.

Der Geistesproletarier ist eine weitaus frühere Erscheinung, und er hat sich auch auf die Gesamtgesellschaft weit dramatischer ausgewirkt. Von dort nämlich begann auch - durch die "Bildung", die diesen Leuten eignete - das Weitertragen eines Unzufriedenheitsgefühls, das aus jenen defunktionalisierten, entwurzelten Schichten erwachsen ist. Der "Stand" der Intellektuellen und Journalisten ist sämtlich dieser Schichte zuzurechnen, und ist zusammen mit vielen Gelehrten - wie sie häufig aus dem Adel stammten, dessen Aufgaben der Beamte übernahm - als "Geistesproletariat" als erster Erscheinung wirklichen Proletariats bezeichenbar.*




Teil 2 morgen) Das erste Proletariat entstammt dem Adel




*Jüngste Umfragen unter Studenten aller Richtungen haben das im Grunde erschütternde Ergebnis erbracht, daß kaum ein Viertel daran denkt, sich nach dem Studium selbständig zu machen, dafür mehr als die Hälfte eine verbeamtete Anstellung erhofft.



***