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Samstag, 18. Mai 2013

Genie als Sittlichkeit

"Universelle Apperzeption, Allgemeinbewußtsein, vollkommene Zeitlosigkeit ist ein Ideal, auch für die "genialen" Menschen; Genialität ist ein innerer Imperativ, nie bei einem Menschen je gänzlich (oder zu jedem Zeitpunkt, Anm.) vollzogene Tatsache. Darum wird zuallerletzt ein "genialer" Mensch, er am allerwenigsten, von sich so einfach zu sagen imstande sein: "Ich bin ein Genie." 

Denn Genialität ist, ihrem Begriffe nach, nichts als gänzliche Erfüllung der Idee des Menschen, und darum genial etwas, das jeder Mensch sein sollte und das zu werden prinzipiell jedem Menschen möglich sein muß. Genialität ist höchste Sittlichkeit, und darum Pflicht eines jeden. 

Zum Genie wird der Mensch durch einen höchsten Willensakt, indem er das ganze Weltall in sich bejaht, Genialität ist etwas, das die "genialen Menschen" AUF SICH GENOMMEN haben: Es ist die größte Aufgabe und der größte Stolz, das größte Unglück und das größte Hochgefühl, das einem Menschen möglich ist. So paradox es klingt: genial ist der Mensch, wenn er es sein will."

Will das Genie aber nicht die Sittlichkeit (die nicht mit "Sündigkeit" im Sinne von Moral zu tun hat, fast im Gegenteil, denn nur das Wissen um Sündigkeit ALS Sündigkeit kann die Sehnsucht nach Wahrheit des Seins hervorbringen, sondern mit der Bereitschaft zur Wahrhaftigkeit, sich also vom Wahren prägen zu lassen, ihm zu gehorchen), sondern das Glück (das nach und nach den Horizont einengt), wird es zum Irrsinn.

Eine Zeit, die das Genie nicht mehr kennt, zeigt, daß sie es gar nicht mehr kennen WILL, weil es die Last der Sittlichkeit vermeiden will. So, wie eine Zeit, die die Last der Sittlichkeit zu vermeiden kultiviert, unweigerlich das Genie (und damit DIE Genies) verliert, während sich die Irrenhäuser füllen und die Psychopharmazie (incl. Drogenproduktion) blüht. Die Folge ist tragisch: Denn die Verweigerung dieser Berufung führt unweigerlich in den Irrsinn. Eine Zeit, die ihre Sittlichkeit ablegt, muß zwangsläufig irrsinnig werden.

Otto Weininger, in "Geschlecht und Charakter"


*180513*