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Sonntag, 2. Juni 2013

Personen als Kulturträger

Es ist ein ganz aberwitziger Trugschluß zu meinen, Kultur wäre jemals über (technische) Medien weitergegeben worden. Misch zeigt in seiner grandiosen "Geschichte der Autobiographie", daß sich durch die ganze Antike bis in die Neuzeit Zweige und Linien, regelrechte Stammbäume persönlicher Lehrer aufweisen lassen, die sich über die Jahrhunderte ziehen. Wissen, Weisheit wurde immer nur persönlich weitergegeben, und steht auf dem Fundament, daß Erkenntnis eine Frage der persönlichen Sittlichkeit ist, nicht eines formalen "Wissens" oder Sprachspiels. 

Dabei zählte der nominale Inhalt immer eher wenig, manchmal war er überhaupt Nebensache. Die meisten Lehrer sind in ihren Lehren kaum wirklich einzuordnen, oder auch nur eindeutig. Sie haben aber erfolgreich gewirkt - als Erzieher zu einer sittlichen Lebenshaltung, IN DER Philosophie, Wissen, zu lebendigem Atem und Blut, und damit zur Religion wurde.

Träger der Weitergabe waren immer Personen, das persönliche Beispiel, die persönliche Wirkung. Plato, Aristoteles (... wer zählt die Namen ...) - sie alle haben durch persönliche Schulen (und Schüler) gelebt und gewirkt. 

Alfred N. Whitehead schreibt völlig richtig, daß das, was Plato wirklich gedacht hat (beziehungsweise gedacht haben muß), aus seinen überlieferten Dialogen direkt niemals hervorgeht. Es ist einer Geisteslähmung zu vergleichen, die schriftlichen Festlegungen zu direkt zu nehmen, sie gar zu einer "Lehre" einzudampfen. Sieht man Plato in der Lebendigkeit eines hinter seinen Schriften zu erfassenden Geistes, wird die Größe seines Denkens erst überhaupt bewußt, und seine Inhalte stehen in neuer, lebendiger Gestalt vor Augen. Und dann sieht man, wie organismisch Plato dachte, wie falsch es ist, seine Aussagen als abstrakt-mathematische Logikgebäude zu sehen.

Der Verfasser dieser Zeilen sieht den künstlerisch-dialogischen Charakter der Platonischen Texte übrigens genau in diesem Bezug: Als erstaunlicher Versuch Platos, über die lebendige Wirklichkeit von geschaffenen Figuren, Personen zu sprechen, im Personsganzen also, mit Schicksal, Charakter und Färbung, je auf ein Du gerichtet. Kein Sprechen (und kein Denken) ist anders möglich und zu sehen.

Verlagerte sich die Weitergabe auf technische Medien, geschah das immer zu einem Zeitpunkt, wo die Vermittlung von Kulturwissen und -inhalten schon gar nicht mehr funktionierte. Noch Plato wetterte deshalb (in seinen Schriften ...) gegen die Rolle der immer gebräuchlicher werdenden Schriftlichkeit. Denn in ihr kann Gewußtes gar nicht weitergegeben werden, sie hat bestenfalls hinweisenden Charakter, trägt aber die Gefahr in sich, daß sie für das Wissen selbst gehalten, also auf ihren Nominalwert reduziert wird.

Das läßt erneut begreifen, in welchen Wahn wir uns begeben zu meinen, über Internet "Wissen", über Algorithmen "Weisheit" weitergeben oder gar ausbauen zu können. Stattdessen wird Wissen zu bloßer Kenntnis, und bleibt kulturbezogen gesehen ohne Wirkung.

Der Verfasser dieser Zeilen weiß, daß man ihn als "Alarmisten" sehen könnte. Wie auch immer, aber er kann nicht anders als aufzuschreien, wenn er sieht, daß wir einer wahren Wissens- und Erkenntniskatastrophe mit Riesenschritten entgegeneilen, ja bereits mittendrin sind. Und sie ist vermutlich schon irreversibel.* So daß das eigentliche Kulturgut der Menschheit des Abendlandes gar nicht mehr vermittelbar ist - es kann gar nicht mehr aufgenommen werden, die Grundrezeption der Wirklichkeit ist bereits zu sehr deformiert. Wie die Jesuiten in Paraguay bleibt nur noch festzustellen, daß die Menschheit in tiefe, a-sittliche Kindheit gefallen ist.

Das, was wir täglich vor Augen haben, das uns vorgaukelt, daß doch noch alles stehen würde, sind nur noch die Fassaden und Museenwände, hinter denen bereits eine erschreckende Leere gähnt.** Spielzeug gleich, das ein Kind dem anderen staunend zeigt, mit dem es irgendetwas anzufangen versucht. Aber die Dinge sprechen nicht mehr, weil die Menschen nicht mehr sprechen. Nur das Sein-Denken hat überhaupt etwas zu sagen, und das verlangt "zu sein". Am Horizont ist sie längst aufgestiegen - die lange, dunkle Nacht. Der Tag ist erloschen. Unser nächster Blick wird der zu den Sternen am Nachthimmel sein (ja, ist er es nicht längst, wörtlich?), aus denen wir versuchen, wieder einen Gang und Sinn der Welt abzulesen.






*Wer sehen will, wie so ein Niedergang vor sich geht, der sollte zum Beispiel nur die Buddenbrooks von Thomas Mann aufmerksam lesen: Als Gesamtbewegung, in der kein Teilchen "großartig" oder "umwälzend" wirkt. Sondern als Zueinander fast unendlich vieler kleinster Faktoren zu sehen ist. Dazwischen mit einem größeren Geschehen politischer Natur, wo ZUM BEISPIEL eine Zollunion nicht laut schreit "seht her, was ich verändern werde!", sondern subtil das gesamte Geschäfts- und Privatleben der Menschen (mit) ändert. Und nach einiger Zeit, in der Rückschau, stellt man plötzlich fest, daß sich das Ganze verändert hat, daß das Ganze, in einer gewissen Unheimlichkeit fast, an vitaler Substanz verloren hat. Wenn die Buddenbrooks aussterben, so wird es zu einer großartigen Metapher einer Kultur als komplexer Gesamtbewegung, in ihrer Doppelgesichtigkeit - als Schicksal wie als Folge des Handelns Einzelner.

**Man erlaube in aller Beschränkung und Angreifbarkeit den Hinweis auf Platos "Theätet" (etc.), sowie auf sein berühmtes "Höhlengleichnis", die Wortwahl der Ausführungen oben ist nicht zufällig. Denn die sinnlichen Daten der Wahrnehmung können keine Gewißheiten liefern, das liegt in ihrer Natur als veränderliche Daten, und in der vielfachen Täuschbarkeit. Einzig die Umwendung "ins Licht", auf das, was die Erscheinungen erscheinen läßt, sie zum Schattensein beleuchtet, die gedankliche Abstraktion vermag das Wesen der Erscheinungen zu erfassen - das Unveränderliche ihrer Wesensidee, das nun allen Denkenden gleich erscheinen kann. Wer nur in den Sinnesdaten bleibt, kommt über subjektives und veränderliches Meinen nie hinaus, selbst wenn sein Meinen auch "richtig" sein kann, und Erkenntnis selbst nur subjektiven Charakter haben (weil im Subjekt stattfinden) kann. (Die "Generation Internet" hat auch deshalb viel Ähnlichkeit mit der antiken Epoche der "Sophisten".) Richtiges Meinen (das aber nie dem Wissen gleichkommen kann, weil ihm dazu die Sicherheit fehlt, also auch nicht durch die Festigkeit des Urteils dem Wissen gleichkommt) und noch mehr aber eben Wissen bedeutet immer deshalb ein Übereinstimmen des Erkennens mit dem Sein einer Sache - im Begriff. Je mehr Einzelnes (auch als Sinnesdatum) nun ein Sein (mit Vorsicht und lediglich als Analogie sei der Begriff hier verwendet: Seinsidee) in sich birgt, desto höherstehend ist es, bis zum höchsten Begriff, bis zum Sein an sich - Gott. Deshalb mündet jedes Wissen - in Gott, deshalb muß Gott allwissend (und sein Name allumfassend) sein. Während alles Wahre in einer Stufenfolge miteinander logisch verbunden ist, sich auf keiner Stufe widersprechen kann, wenn auch nicht im Aufbau nach oben quasi "additorisch" einfach ausrechenbar - wenngleich in der Mathematik, der reinsten Idee, darstellbar - wird.

Hier muß man freilich Plato ergänzen, denn die Wesenserkenntnis ist selbst empirisch verankert, die Erkenntnisarten (empirisch, mathematisch, philosophisch) vereinigen sich zu einer einzigen Erkenntnis. Im übrigen sei auf so manche Ausführung über das Wesen von Sprache hingewiesen (siehe unter anderem unter dem Stichwort Josef König), die sich hier findet oder noch finden wird. Denn auch der Begriff "Denken" müßte dazu weiter hier auseinandergelegt werden, als es vielfach geschieht. (König unterscheidet anhand eingehender Sprachanalyse zum Beispiel in "Sein-Denken" und "das Sein denken"; das genüge als Hinweis.) Der Verfasser dieser Zeilen hat den Verdacht, daß der Denk-Begriff Platos (bzw. sein Ideenbegriff) weiter zu fassen ist, als vielfach geschieht.

Dennoch - siehe die Ausführungen in dieser Zeit zu den Erkenntnissen von Melchior Palágyis Wahrnehmungsthesen - kann auch der Sensualismus (psychophysischer Parallelismus) nicht stimmen, wonach Erkennen mit Sinnesdaten parallel verläuft. Damit würde der Mensch nie zu Gewußtem kommen, was jeder Empirie widerspricht. Denn so beschränkt es auch immer sein mag: der Mensch KANN wissen. 





*020613*