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Dienstag, 11. Juni 2013

Vom Einen zum Vielen (2)

Teil 2) Ins Personale zurückgeholte Vernunft





Was nicht heißt, daß es nicht in allen Religionen Einzelne geben kann, die diese Unfreiheiten erkennen, und vielleicht lediglich den Zugang zur Offenbarung des Alleinen nicht haben. Aber der Synkretismus der Gegenwart, der längst eine Allgemeinerscheinung ist, in dem also alle Religionen "eins" sind oder sein sollen, erkennt nicht (mehr) den prinzipiellen Unterschied, häufig, weil er den Katholizismus gar nicht (mehr) versteht.

Wo sich das Rationale nicht erledigt hat, sondern in einer wirklich umfassenden Offenbarung erst zur Kraft der Vernunft steigert. Die Offenbarung Christi hat auch die weltimmanente Rationalität durchleuchtet, das Reich der Vernunft ist nicht auf das Irdische begrenzt, aber in bloßer weltimmanenter Rationalität - die ja nur Anfang einer allumspannenden Vernunft sein kann - nicht erschöpfbar, ja unzureichend. Damit wird im Vielen das Eine gesehen, und es ist Ausfluß Gottes, der Vernunft IST.*

Die Entwicklung in den Vedas, die sich in ihrem Kern ebenfalls als Offenbarungen verstehen, daß dieser all-eine Gott selbst aber dem Menschen nicht direkt erkennbar ist, und zwar aus Gründen der Vernunft bzw. deren Wesen, ist spät, und sie weist bereits auf die zunehmend notwendige philosophische Ausprägung, dem Durchdringen mit dem Verstand, hin, als Folge des Zerfalls des Lebensganzen, wo das Leid immer mehr ins Blickfeld gerät. Das aber gelang dort nicht, das indische Denken verlief sich in theologische Spekulation, und darüber zerlief das konkrete Leben, das sich vom Religiösen ablöste. Aus einer ursprünglich äußerst lebens- und weltbejahenden Religion wurde im Zerfall der umfassenden Lebenssicherheit eine Religion des Asketentums, der Abwendung von der Welt. Der unbekannte Gott wurde nicht bekannt. Eine eigentlich zwangsläufige Folge - ohne Inkarnation Gottes selbst, wie es in Bethlehem hunderte Jahre später passierte, in dem Wahrheit Fleisch wurde, sodaß sich die Welt selbst in die Vernunft mit hineinhob.

Denn das Wissen, das erste und alles weitere aufbauende Wissen des Menschen ist nicht ein "Wissen von", sondern in ihm ist das Wissen selbst Sein - ein Sein-Denken, in der Form der Teilhabe dem Menschen zugängig, als Objekt der Sinne. Die reale Auswirkung einer Religion ohne inkarnierten Gott ist der fehlende Zugang zur tiefsten Vernunft. Diese Schwelle kann der Mensch aus sich heraus nicht überschreiten. Er bleibt in Ahnung und Gefühl. Es fehlen ihm sozusagen die Schlüsselbegriffe, aus denen heraus sein weiteres Denken erhellt werden kann. Er driftet entweder in Rationalismus ab, oder in bloßes religiöses, außerhalb strikter Riten haltloses Gefühl. Das Innere aber muß von aller empirischen Inhaltlichkeit gereinigt werden, um zur Erlösung von Leid und Tod zu gelangen. Die Welt verliert jede positive Bedeutung.

Weshalb der irrationale Religiöse Riten oder "Überzeugungen" oder Techniken, Methoden zu finden sucht, nur sie geben ihm Halt. Der irrationale Religiöse ist es damit auch, der fanatisch wird. Ihm wird das Begegnende immer zur potentiellen existentiellen Gefahr. Der Rationalist hingegen, der im Glauben an eine weltimmanente Rationalität erstarrt, daran gleichfalls fanatisch festhält, verdrängt seine religiösen Ahnungen überhaupt, taucht sie in scheinrationales Licht, oder tut ohne zu wissen was er tut, um sich dem Gefühl zu doch noch aufzureißen, dessen Wirkung er sich hinwiederum vergewissern muß. Beide Formen verschwimmen so gut wie immer ineinander, und sie zeigen idente, nur anders gelagerte Symptomatik. Etwa, indem der irrational Religiöse "theologistisch" wird, also sein Denken absolut an theologische Formeln anpaßt, dogmatistisch, ritualistisch und/oder moralistisch wird, und damit erst recht die Wirklichkeit als Begegnungsort mit Gott, dem Sein, verdeckt. Immer im Druck des Selbstvergewisserungszwangs - etwa im beweishaften "Erleben". Die Kombinationen sind zahllos und meist hoch komplex, denn die Wirklichkeit der Wirklichkeit kann niemand ganz ausblenden, sie umhüllt ihn immer.

Auch heute ist in unserer aus aller Einheit gerissenen, auseinander gefallenen Kultur der Mensch in den ruinenhaften Teilstücken dieser Kultur nunmehr mit Fragen konfrontiert, die auf einer (im wesentlichen: immanent philosophischen) Ebene liegen, die dem Einzelnen auf diese Weise gar nicht zugängig ist. Das Weltgefühl ist dem Einzelnen auf der Ebene, auf der die Fragen auftauchen, dem Rationalen, rational nicht mehr bewältigbar. Die meisten der heutigen Fragen sind deshalb entweder irrelevant, oder greifen in Bereiche, die die ihrer Art gemäße Lösekraft des Einzelnen weit übersteigen. Weshalb wir heute in einem schier unübersehbaren, durchaus wirren Geflecht menschlichen Daseins leben, das ein "glauben an und glauben jemandem" ist, auf der Schwelle zum vollständig Irrationalen. Die Worte schließen den Menschen ihr eigenes Inneres, ihre zentralen Fragen, gar nicht mehr auf.

Menschliches Wissen auch als Bewußtsein ist aber immer an personale Autorität gebunden, denn so ist das menschliche Wesen angelegt: personal. Denn das ist das Grundwesen der Welt - die nicht sinnlos ist.

Philosophie ist nicht eine Generalerscheinung des Menschen, sondern eine kulturell bedingte, sehr spezifische Leistung. Bricht, wie in Europa (und überall sonst noch in der Geschichte ist dasselbe zu beobachten) passiert, die Einheit der Kultur innerhalb der Religion auseinander, so wird nach und nach der Einzelne mit Fragen überschwemmt, die er auf die kulturell-faktisch gegebene Weise nicht mehr beantworten kann. Hier wird die Philosophie zur wirklichen Leistung.

Das ist umso tragischer, als die kulturelle Entwicklung als Zerfall der gesellschaftlichen Ordnungen zur Tatsache führt, als der Einzelne zwingend aufgefordert wird, sich sein Urteil auch über seine eigenen Grundlagen selbst zu bilden, um seinen Ort als Grundlage seines Daseins überhaupt zu bestimmen. Diese Frage muß zuerst geklärt sein, sonst wird jeder verrückt, völlig unfähig zu denken. Und sie wird bei jeder noch so kleinen Berührung mit der Welt, bei jeder noch so kleinen Tat (und alles, was ein Mensch ist, ist im Gegenzug Tat) neu aufgerissen. Die er in stetig neu aufzugreifendem Selbstgespräch - denn das ist letztlich Denken - neu zu bewältigen hat. Denn die Flucht in Romantizismen, Sondergesellschaften, Scheinordnungen oder zwanghaften, auch moralischen Neuordnungen wie Faschismen oder Kommunismen, aber selbst scheinbar orthodoxen Erneuerungsbewegungen und so mancher Gemeinschaften, erlöst ihn nicht aus dieser nur individuell zu bewältigenden Unruhe, der immer neu aufbrechenden Sorge um das rechte Handeln.

Ist die geistige Grundlage einer Zeit krank, und das heißt duchaus: ihre Öffentlichkeit, ihre (verbale) Oberfläche, vermag diese Gedankenzusammenführung nicht mehr zu einem Ergebnis zu finden. Dabei entscheiden aber ganz andere (nicht direkt religiöse), in gewisser Weise zufällig zu nennende Faktoren - wie die Faktizität hierarchischer Zuordnungen, die praktisch-faktische Lebensordnung seiner wirklichen existentiellen Situation als Grundlage seiner Welterfahrung** - über seinen Zugang zu Gott und Religion. Auf daß der Mensch das finde, was er immer sucht und was sich hinter allem Mühen und Streben und Umsichschlagen verbirgt: die Ruhe und den Frieden im Einen.


Teil 3 morgen) Nachsatz. Konsequenzen



*Die in der Gnosis weltimmanent wird. Dort besteht Transzendenz nur dem Namen nach - der Mensch vermag in ihr aufzugehen, sie quasi in sich identifizierend, zusammenfallend "herunterzuholen".

**Daran schließt ja die hier so vehement vorgetragene Kritik am Sozialstaat an, der nämlich eine Erodierung der Grund-Welterfahrung und damit eine Austrocknung des Menschseins nach sich zieht. Indem der Sozialstaat die Verlagerung eben dieses Menschseins in die Technik bedeutet. Richard von Weizsäcker sei als einer von vielen genannt, die bereits bei der Intensivierung des Sozialstaates vor 100 Jahren eindringlich vor den pädagogischen Folgen gewarnt hat. Die Entwicklung der menschlichen Haltungen, wie wir sie heute sehen und meinen, sie seien das zufällige Ergebnis freier zivilisatorischer Entwicklung, waren bis auf Punkt und Beistrich vorherzusehen.





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