Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 25. August 2013

Von Vermögen und Dolchstoßlegenden (3)

Teil 3) Parallelen - Dolchstoßlegenden 
und das Ende der Politik
 

Die Bezeichnung selbst, als geflügeltes Wort, Dolchstoßlegende, belegt das Ausgesagte: Sie entstand 1918 in Deutschland, als das persönliche Erleben der Menschen - Opferbereitschaft, Kampfesmut etc. - dem großen Geschehen zuwiderzulaufen schien. Man verstand nicht, daß persönliches Erleben und reales Geschehen so weit auseinanderklaffen können. Man verstand nicht, warum man einen Krieg verloren haben sollte, wo man doch noch längst kampfbereit war, sich keineswegs besiegt fühlte, ja die Armee nach wie vor im Feindesland stand. Warum aber wurde der Krieg wirklich verloren? Weil die abstrahierte Gesamtmaschinerie "Krieg" und "Kriegswirtschaft" am Ende war, auf der aber alles "persönliche Tun" der Einzelnen aufbaute, das aber nicht direkt erlebbar und nur sehr wenigen durchschaubar war.
Das ermöglichte zwar den Anschein, als wäre bis zum letzten Tag des Krieges die gesamte Kriegsmaschinerie intakt, aber daß sie nur noch mit dem letzten Tropfen fuhr, daß binnen Tagen jede, und zwar wirklich jede einzelne Bewegung mit einem Schlag unmöglich werden würde, war dem Einzelnen nicht sichtbar: er hat keine Niederlage "erlebt". Die Abstraktion als mathematische Zusammenfassung des Gesamtgeschehens hatte zwar vermocht, jeden Teil auf scheinbarer Gesamthöhe zu halten, aber sie war damit auch auf einen Schlag und berechenbar an ihrem Gesamtende. Hätte man es darauf ankommen lassen, wäre es erst auf Erlebenshöhe herabgesunken: indem jeder einzelne Soldat an der Front das Ende des Nachschubs erlebt hätte, sodaß die Gesamtniederlage auf die Ebene der Einzelniederlage abgesunken wäre.³

Aber diese Parabel läßt sich auf das heutige Geschehen hervorragend anwenden. Unsere Systeme werden nicht Tag für Tag niedergehen, sie werden schlagartig zu Ende gehen. Der Verfasser dieser Zeilen vermutet, daß der Einzelne aber das auch heute sehr wohl spürt, nur nicht erklären, nicht verstehen kann.
Als Beleg für die Behauptungen gilt, daß aus persönlicher Beobachtung genauso wie in zahlreichen Umfragen belegt heute dieselbe Kluft zwischen persönlichem Erleben und "realem Geschehen" (das damit rasch zu einem "angeblichen" wird) beobachtbar ist. Da hat die Welt seit 2008 die größte Geld- und Wirtschaftskrise der Menschheitsgeschichte am Hals. Nur die Menschen bemerken sie nicht. Sie spielt in ihrem Leben kaum noch eine Rolle. Entsprechend kämpft auch die Politik, ihre "Leistung" transparent zu machen. Sie kann es nämlich nicht. Das Geschehen ist den Menschen - und im übrigen auch der Politik - zu abstrakt, zu mathematisch abgehoben. Und die Lösung der Krise verläuft nach wie vor auf solchen Ebenen.
Kommt es zum Durchschlag nach unten, der ein realer Totalzusammenbruch staatlicher Politik vorhergeht, sind die realen Auswirkungen flächendeckend und total sowie gleichzeitig - aber nicht in ihren Zusammenhängen dem Erleben nachvollziehbar. Alles lief doch bis zuletzt "normal"? Wie immer, wie es sich eben entwickelt hat?
Das wirkt sich direkt auf das Verhalten der Bevölkerungen aus. Schafft es die Politik also nicht, das System mathematisch-abstrakt aufrechtzuhalten, sodaß sich "unten" nichts bemerkbar macht, das Leben unten weitergeht als wäre nichts geschehen, steht sie vor einem wahren Dilemma: Sie hat ihre gesamte Bevölkerung gegen sich, und kann nicht wirklich argumentieren. So kann man vieles am Geschehen in jenen Ländern, in denen die Abstraktion bereits zerbrochen ist - Griechenland, Portugal, Spanien ... - deutlich besser verstehen. Kategorien wie "soziale Unruhen" etc. greifen da viel zu kurz, und sind kaum mehr als Mascherl, die man realem Geschehen umhängt. In Wahrheit spekuliert die Politik in Europa und in vielen Staaten der Welt, wenn nicht in allen, indem sie extrem pokert:

Gelingt es nicht, das Ganze aufrechtzuhalten, steht sie mit einem Schlag der gesamten Weltbevölkerung gegenüber. Und zwar in einem Täter/Opfer-Verhältnis. Durch eine Politik, die sich von den Menschen nämlich tatsächlich wegbewegt hat. Und zwar gerade durch die Homonymie von Sozialstaat-Demokratie-Wohlstand und Politikvermögen. Welch letzteres der gezielte Versuch war, reales Geschehen durch Abstraktion seiner selbst zu entheben. Sie hat sich damit weltweit übernommen, und wird Opfer ihrer Hybris, mit der sie seit langem versucht, das Leben ihrer Bevölkerungen zu formen und zu gestalten. Es war nur Schein.


³Das war für Österreich-Ungarn, das bei weitem nicht so totalitär durchorganisiert war wie Deutschland, aus diesem Grund, wie natürlich aus weiteren, komplett anders. In Deutschland war ein virtuelles Bewußtsein, das die Propaganda geschaffen hatte, vorhanden, das im Widerspruch zur abstrakten und wirklichen Wirklichkeit stand. Denn solcherart abstrahierte Wirklichkeiten "brauchen" Propaganda, um das Erleben der Menschen von der Tatsächlichkeit zur aktiven und prospektiven Wirklichkeitsschöpfung, zur Verlagerung auf den positiven Willen zu überlagern. Handelt die Politik heute anders? Ist nicht die Erwartungshaltung von derartiger Wichtigkeit für den realen Zustand geworden, daß man sich in gewaltigem Ausmaß um Prognosen kümmert, weil sie die Augenblicksstimmung ummünzen sollen. Immer im Druck, diese Realitäten, die denn doch durchbrechen, erneut in "Perspektiven" aufzufangen? Vergeht nicht (deshalb) keine Woche, in der wir nicht von irgendeiner "Fachstelle" mit neuen abstrakten Prognosen ermuntert werden sollen?

In der Donaumonarchie kam der innere Zusammenbruch im Erleben der Menschen VOR dem der Politik. Die k.u.k. Monarchie brach nicht durch den verlorenen Krieg zusammen, sondern der Krieg ging verloren, weil die Monarchie zusammenbrach.
Hier haben die Soldaten VOR der Militärführung den Krieg für beendet erklärt: entmutigt durch die Unabhängigkeitserklärungen der Tschechen und Böhmen, die ohnehin schon seit 1914 kaum bereit waren ihre Menschen für die Monarchie zu opfern (und zahlreich zu den Russen überliefen), der die Ungarn folgten. Im letzten Punkt aber aus einer gewollten oder unbeabsichtigten Fehlinterpretation des Zeitpunktes, wie er vereinbart war: Null Uhr. Heute oder morgen? Sie haben sich für "heute" entschieden, und sind ganz simpel und einfach ... heimgegangen. Jeder Einzelne fühlte sich besiegt, noch ehe es das Ganze formell war.
Was zur berühmten Niederlage von "Veneto" (das die Italiener sogleich in "Vittorio Veneto" umbenannten, wie es auch heute heißt) endete ... wo die bereits weitgehend waffenlosen Soldaten der Südfront, 300.000 an der Zahl, die sich im Waffenstillstand wähnten, von den eifrigst nachrückenden Italienern und Amerikanern (die die Italiener an der Piave vor der definitiven Gesamtniederlage bewahrt hatten, die der Durchbruch in der 12. Isonzoschlacht im Oktober 1917 bewirkt hätte, woraufhin ganz Nordostitalien aufgegeben werden mußte, der Angriff auf Österreich vom Sommer 1915 in einen Verteidigungskrieg umschlug) zur allgemeinen Überraschung "besiegt" weil ohne nennenswerte Gegenwehr gefangengenommen wurden.
Erst diese Vorgänge haben den Krieg für Österreich-Ungarn auch zur militärischen Niederlage gemacht. Zur Niederlage, an der aber niemand zweifelte - aus dem Erlebensfazit der Einzelnen. Es gab in Österreich keine Legende, die den Krieg eigentlich für gewonnen hielt, hätte die Politik nicht den Sieg verspielt, wie in Deutschland.




***