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Sonntag, 10. November 2013

Der Irrsinnige denkt viel

Irrsinn und Verbrechen, schreibt Otto Weininger in "Über die letzten Dinge", sind die zwei bedeutendsten Erscheinungsformen des Irrsinns. Wem der Irrsinn Gefahr wird, dem wird alles Logische problematisch. Die instinktive Sicherheit des Urteilens verläßt ihn. Deshalb muß er sich mit gedanklicher Stabilisierungsarbeit befassen, um nicht die Orientierung, den Boden unter den Füßen zu verlieren. 

Hohes intellektuelles Tätigkeitsniveau ist also keineswegs für sich schon Ausweis besonderer Genialität, sondern gerade Menschen mit Neigung zum Irrsinn interessieren sich besonders für logische und erkenntnistheoretische Probleme. Denn damit etwas problematisch wird, muß es zuerst Problem sein. Wo Gefahr ist, ist Erkenntnis nötig. Das gilt für die Erhaltung des Innenlebens nicht weniger als von den Bedrängnissen der Umwelt.

Dem Irrsinnigen verdunkelt sich das Denken, dem Verbrecher das Gefühl für den Wert. Der Wert des menschlichen Lebens, der Wert der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Schönheit - alles wird ihm problematisch. Wohnen neben verbrecherischen Neigungen auch noch sittliche Strebungen im Menschen, ist er nicht völlig verbrecherisch, so entstehen aus dem Problematischgewordenen die entsprechenden Probleme. Der Feind liegt im Inneren, was sich aus der Selbstbeobachtung erschließt. Alles Böse, so Weininger, entsteht aus einem Mangel an Bewußtheit - Bewußtheit ist damit Sittlichkeit. Antworten finden sich deshalb nur aus der Haltung der Sühne.

Der Irrsinnige und der Verbrecher denken also viel, aber sie erkennen nicht. Und sie tun es nicht aus einer willentlich-sittlichen Entscheidung, die ihnen die Haltung der Erkenntnis verweigert. Umgekehrt wird der, der Sittlichkeit und Erkenntnis verweigert, zwangsläufig irrsinnig oder/und zum Verbrecher. Dies wird besonders schlagend, wenn der Mensch sich durch unsittliche Lebensweise eine Natur aufbaut, die ihm geistig unüberwindlich wird. Sie wird seinen Verstand zur Ungeistigkeit nach innen ziehen, seine Probleme werden ihm damit unüberwindlich, er erstickt an ihrer zunehmenden Menge und Komplexität, aus der er keinen Ausweg zum instinktiven Urteil mehr findet.

Dieser Ausweg aber ist eine Frage der Bereitschaft zur Logik. Nur aus ihr heraus verliert der Geist nicht seinen Kontakt zum Leib, bleibt der Mensch noch eins, indem er Widersprüche zusammenführt und auflöst.* Damit wird geistige Gesundheit zur Frage der Sittlichkeit. Denn das Problematischgewordene läßt sich nicht einfach verdrängen, sondern muß aufgelöst werden.

Das Genie ist deshalb nicht eine Art von Irrsinn oder Verbrechen, sondern deren vollkommenste Überwindung.


*Man kann es im Alltag sehr gut beobachten, wenn Menschen, denen es an Sittlichkeit mangelt, eine immer stärkere Neigung zu obskuren Thesen und Weltanschauungen zeigen. Ja, vieles, wenn nicht alles an der heutigen Pseudoreligiosität und esoterischen Neigungen führt sich direkt auf die Unsittlichkeit der allgemeinen Lebensführung zurück. Durch irrationale Anschauungsbilder soll dieser Mangel an logischer Durchdringungskraft verschleiert, das gespaltene Selbst zur Einheit zurückgeführt werden, was aber in sich unmöglich ist, und kaum anderes als in Bosheit (oder Selbstparalyse) münden kann.

Während gerade der Rationalismus, wie er so oft zu beobachten ist, der sich aus seinem Wesen her auf Teilwelt und -wirklichkeit beschränkt bzw. von ihr nährt (von da her seine Affinität zur Technik, in der "Teil-Richtigkeit" zur Logik wird), eine subtile Form des Mißbrauchs der Logik darstellt. Die abwehrende Haltung gerade der Rationalisten gegenüber der Metaphysik (nicht aber gegenüber esoterischen Weltbildern - kein Rationalist, der nicht irgendwo seine irrationalen Ecken pflegt, die diesen Mangel an der Wirklichkeitsrezeption beheben, die natürlich wahrgenommene Abgeschlossenheit rationalistischer Gebäude durchbrechen sollen) erzählt deshalb Bände.


*101113*