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Montag, 3. Februar 2014

Ästhetik als Naturbedingung

Es ist auffällig, daß in der Tierwelt nur jene Sinnesreize wahrgenommen und gewichtet werden, die den jeweiligen existentiellen Horizont einer Gesamtwelt für dieses Tier (bzw. diese Art) bedeutet. Eine Eidechse wird beim Rascheln von Stroh aufmerksam und versetzt sich in höhere Spannung. Das viel lautere Tönen einer Glocke interessiert sie aber überhaupt nicht. Max Scheler nennt es "Qualitätenkreise", die für je verschiedene Arten gegeben sind, und eine Art Alphabet darstellen, wodurch die gleichsam lebendigen Worte der Milieudinge darstellbar werden. Nur als solche treten sie figurhaft und komplex-qualitativ aus einem relativ neutralen Hintergrund hervor.

Beim Verstandeswesen Menschen, das im Intellekt von der bloßen Sinneswahrnehmung zurücktreten kann, tritt diese Gestaltauffassung unter den Gesichtspunkt der Unterscheidung von Wesentlichem zu Unwesentlichem (und ist damit vom Sinnhorizont des Menschen für das Ganze abhängig). 

An Untersuchungen bei Verletzungen des vorderen Stirnlappens hat sich gezeigt, daß dieses Unterscheidungsvermögen stark leiden kann. Der Untersuchte hat offenbar eine Störung des phantasmatischen Vorstellungsvermögens, die aber zur Erkenntnis der Dinge wesentlich ist, weil diese nur über Abstraktion (und damit unter der Bedingung der Phantasie) erfolgt.

Etwa bei der Wahrnehmung einer Blume, zeigt Hans André - deren Kelch in seiner Innigkeit erfaßt wird, als "annähernde Kugel". Wird der Blütenkelch zerzaust, nimmt auch die Wahrnehmung diese Abweichung von idealen Formen als Störung wahr. Dem kommt ein in der Natur feststellbares Streben der Lebewesen entgegen, sich in Symmetrie und bestimmten "geometrischen" Verhältnissen zu konstituieren. Bei Störungen versucht jedes Lebewesen, sich selbst wieder in diese Symmetrien zu bringen. Aus sich heraus versucht ein Lebewesen, Störungen von Größenverhältnissen und Spannungen von "abstrahierbaren" Gestalten (und -teilen) auszugleichen, in bestimmte Verhältnisse zu setzen.

Das leitet dazu hin, daß sich die geistigen Formen quasi in der Natur selbst vorausgehend finden, und mit dem Verstand des Menschen korrespondieren. André nennt es "angenäherte Rationalität". Die menschliche Rezeption dabei ist keineswegs von der bewußten Tätigkeit abhängig, vielmehr bezieht sich der Verstand selbst auf diese vorausgängigen Größen und deren Spannungen zueinander.

Es ist also nur bedingt richtig zu sagen, daß Anschauungen ohne Begriffe "blind" seien. Denn es gibt ein unbewußtes Erkennen, das sich dennoch auf geistige Größen bezieht, ja dieses ist vorgängig. 

Otto Willmann meint dazu, daß man zwar davon sprechen kann, daß das Wesen und die in ihm begründete Zusammengehörigkeit der Dinge oder Eigenschaften ohne Verstand nicht erkannt werden. Daß aber in der sinnlichen Wahrnehmung selbst das potentiell in ihr liegende Denken bereits vorliegt. Die Bildung eines Begriffs dafür ist sohin nicht willkürlich, sondern trägt potentiell die Struktur des Stoffes (des Objekts) in sich.

Anders also, als Descartes schreibt und wie es heute zur fast allgemeinen Sicht wurde, sind die rex extensa (die Welt der Objekte) und die res cogitans (die Welt der Subjekte, die die Kultur bilden) keineswegs zwei unterschiedliche Welten, die miteinander nichts zu tun haben, sondern korrespondieren direkt über die Gestalt, ja beziehen sich auf dieselben Formen. Die der Mensch im Laufe seines Heranwachsens nach und nach als Grundformen, die der Welt und ihm selbst als Teil der Welt zugrundeliegen, abstrahiert, die dann den Inhalt seines Verstandes bilden.

Dieses Abstraktionsvermögen hinwiederum ist im Maß der Liebe zu messen, wie Scheler etwa schreibt. Denn die Liebe ist jene Kraft, die von den bloßen Reiz-Reaktions-Verhältnissen freimacht, und das Objekt als es selbst stehen läßt und erfährt. Die Liebe ist deshalb ein Akzidens des schauenden Intellekts, der nur so weit und so tief schaut, als er liebt, aber nur so tief und weit lieben kann, wie er schaut*.



*Etwas, das dem Tier nicht möglich ist, so komplex seine Reiz-Reaktionsverhältnisse auch werden können. Letztlich kann es sich vom bloßen "Reagieren auf Eindruck" nicht lösen. Der Mensch aber kann zwischen Subjekt und Objekt scheiden.
 



*030214*