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Montag, 10. Februar 2014

Machterfahrungen

Einen interessanten Kommentar zur Lage in Ägypten konnte man im Schweizerischen Fernsehen auf "Sternstunde Philosophie" hören. Das Land ist nicht mehr homogen, sondern zerfallen. Reinhad Schulze, ein Islamwissenschaftler aus Bern, meint, daß heute eine Vielzahl von Parallelwelten abgeschlossen nebeneinander existieren. Die Spaltungen der unterschiedlichsten Wert- und Lebensvorstellungen gehen auch mitten durch die Familien. Mit einer neuen Rolle des Militärs: Alle erhoffen sich Stabilität vom Militär, als Übervater.

Schulze meinte, gaß es in den vergangenen Revolten gar nicht um Politik ging, sondern rein um individuelle Lebensentwürfe. Als eine Art Befreiung von den zuvor traditionellen Lebensweisen, sollten alle Grenzen weichen. Entsprechend sind aber nun in der aktuellen liberalen, modernen Verfassung, die von einer beträchtlichen Mehrheit im Lande gewählt wurde, konkrete Lebensentwürfe, politische Programmteile enthalten, was für eine Verfassung seltsam ist, weil dort gar nicht hingehört.

Wer nun gegen die Verfassung ist wird dämonisiert, wird zum Feind des Landes gemacht. Ein neu entfachtes Nationalgefühl (als psychologische Klammer) spielt eine ungemein starke Rolle, und Vertreter anderer Meinungen werden zu Staatsfeinden. Die ägyptische Gesellschaft selbst wurde zum Diskussionsinhalt, der Diskurs in welcher Gesellschaft man überhaupt lebe spielt nun eine enorme Rolle, wobei sich weit auseinanderliegende Vorstellungen gegenüberstehen. Manche Gruppierungen (wie Kopten, Nuber etc., aber auch die Muslimbrüder) sind nun von öffentlichen Positionen (wie Militär) ausgeschlossen. Ägypten ist zu einer Föderation geworden. Die Polizei hat wieder genau so viel Macht und Einfluß wie vor den Umwälzungen.

Gewinner der Situation sind nun kleine, ultrareligiöse Gemeinschaften, die wie in Syrien oder im Irak zu agieren beginnen. Verlierer ist die breite, alte Mittelschicht. Die Auswirkungen reichen bis in die Türkei, wo Erdogan erleben muß, wie die auch von ihm präferierte muslimische Bewegung aus der Politik zurückweicht. 

Die Muslimbrüder sind an sich als ein stabiles sozial-religiöses Milieu zu sehen,. wo die Menschen innerhalb fester, traditioneller Werte und Vorstellungen leben. Sie waren nicht direkt politisch, weit mehr durch soziale Aktivitäten aktiv, bis sie sich daraus heraus in den letzten Jahren zu einer politischen Partei entwickelten - nun ist die ganze ägyptische Gesellschaft politisiert.

Der Westen, so Schulze, hat Ägypten überfordert, in dem man stabile politische Strukturen verlangte. Die Revolte von 2011 war lt. Schulze aus dem Wunsch geboren, endlich den Staat als Taktgeber der Lebensweise abzuschütteln. Man wollte eine plurale politsche Landschaft von Meinungen. Aus denen hätte es Jahre gedauert, bis sich auch eine politsch-demokratische Struktur ergibt.*

Daraus ist auch ein Druck entstanden, meint die ägyptische ´Publizistin und Lehrerin Jasmin el Sonbati dazu, der Welt nun zu beweisen, daß man ihr widerstehen kann, eine eigene Form entwickeln kann. Der Islam, so Sobati, hat sich leider sehr stark verkürzt, ist zu einer reinen normativen Kraft geworden.

Wobei Schulze darauf hinweist, daß man gar nicht davon sprechen kann, was überhaupt "islamisch" ist. Und da wird's interessant.

Die erste Steinigung einer Frau fand im späten 17. Jhd. statt, und wurde heftigst kritisiert. Von einer einheitlichen Religionsgemeinschaft kann man heute gar nicht mehr sprechen, die Vorstellungen differieren von einem Extrem zum anderen. Der islamische normative Moralismus ist eine sehr moderne Erscheinung, und wurde vor allem im 19. Jhd. stark. Die Moderne hat sich Religionsformen erschaffen, für die das islamische Feld nur ein Forum ist.

Syrien, so Schulze, ist kaum noch zu rekonstruieren, das Land is tbereits unrettbar zusammengebrochen, der gesellschaftliche Kit einer Zukunftsvision existiert nicht mehr. Vom benachbarten Irak gilt ähnliches zu sagen. Die islamistischen Bewegungen - an sich eine kleine, aber radikale, militärisch starke Gruppe - zwingen dabei, Syrien mit dem Irak zusammen zu denken, denn deren Ziele (als Gottesstaat) liegen in diesem gesamten geographischen Raum. Man muß sie aber klar von den Muslimbruderschaften abgrenzen, von denen sie Welten trennen.

Der nachhaltigste Effekt aus 2011 ist die Mobilisation der Bevölkerungen. Diese Erfahrung der Macht zur Destruktion wird bleiben, schon gar, weil der "Arabische Frühling" vor allem von den Jungen getragen wurde.




*Spätestens an diesem Punkt muß man die Einschätzungen Schulzes auf ihre Relevanz hinterfragen.




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