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Montag, 14. April 2014

Verlust der Wirklichkeitsoffenheit

Gerade die Wahl des Krakauer Bischofs Karol Woityla zum Papst hat in der Kirche Polens, so schreibt Jozef Tischner, der großartige Kopf der bzw. in der polnischen Kirche in den Zeiten des Umbruchs seit den 1980er Jahren, eine Trägheit ausgelöst, die ihr zum Verhängnis wurde. Die polnische Kirche zeigte zunehmend dieselben Symptome der ehedem kommunistischen Totalitarismen. Die Theologie wurde träge, hielt die intellektuelle Wachsamkeit für nicht mehr notwendig, und verlor so den Anschluß an die eigentliche gesellschaftliche Wirklichkeit bzw. die wirkliche Situation der Menschen. Sie förderte stattdessen den "homo sovieticus", den unreifen posttotalitären Menschen, der jeder Autorität hinterherläuft, solange diese unangenehme Fragen von ihm fernhält.*

Dem Christentum in Polen drohe weder Laizismus noch Atheismus, sondern die Parodie einer Religion, schreibt er in den 1990er Jahren. "In meinem ganzen Leben als Geistlicher und Philosoph habe ich nie jemanden getroffen, der seinen Glauben über der Lektüre von Marx, Lenin und Nietzsche verloren hätte. Aber es gibt unzählige, die ihn bei der Begegnung mit dem eigenen Priester verloren haben."

Diese Offenheit der Wirklichkeit gegenüber, auch und vor allem der eigenen, sieht Tischner essentiell. Der Mensch braucht die Bereitschaft zum selbständigen Denken. "Bevor Deine Seele erlöst wird muß klar sein, wer zu erlösen ist. Du mußt dir selbst treu bleiben. Wenn du vorgibst, ein anderer zu sein, wird der andere an deiner Stelle erlöst.

Das Übel der Gegenwart ist nicht, daß die Menschen nicht mehr glauben oder anderen Weltanschauungen hinterherlaufen. Keine davon übernehmen sie wirklich, der Relativismus der Gegenwart ist im Grunde Gleichgültigkeit, Abwehr von Verbindlichkeit, Ablehnung von Konkretion, denn die würde Antwort, Haltung, Stellungnahme fordern. Das Übel ist, daß sich die Menschen ihrer eigenen Wirklichkeit gar nicht mehr stellen.



*Tischner greift damit auf einen Zentralpunkt der Kritik an der so raschen Selig- und Heiligsprechung des späteren Papstes Johannes Paul II. zurück. Denn sie wurde instrumentalisiert, indem man das Ewige historisiert - wie es hier schon mehrfach ausgeführt wurde - mit dem Zweck der Selbst-Heiligsprechung und damit selbstzufriedenen Abschließung der gegenwärtigen Kirche. Dieser Zug hat sich in den letzten Jahren sogar noch dramatisch verstärkt, und findet im jetzigen Papst einen weiteren Höhepunkt: "für den Papst" zu sein wird zum tödlichen Instrument der eigenen Wirklichkeitsferne und ideologisierten Erstarrung, über die man sich durch viele scheinbar "richtige" Worte, denen man "zustimmt", hinwegtäuscht. Diese Selbsttäuschung, die mittlerweile über die social media stattfindet (mit täglichen päpstlichen Twitterbotschaften) ist um nichts vom Übel des Zeitgeists unterschieden. Sie "tut nur so", weil sie meint, über andere Inhalte sei das Geschehen auch anders gepolt. Ein fataler Irrtum!  

Denn wie Tischner schreibt, ist das erlösende Geschehen ein immer sehr persönliches Geschehen der je aktuellen Wirklichkeitsbegegnung. Indem die Kirche nunmehr ebenfalls so tut, als sei das nicht so, treibt sie die Menschen vom Glauben weg, ja zerstört ihn. Wenn an dieser Stelle einmal (wörtlich: auf die Spitze getrieben) getitelt wurde, daß Twitter das Ende der Kirche bedeute, so liegt hierin die Begründung. Social media bringen die Menschen nicht zur Kirche, sondern IM GEGENTEIL: sie schaffen eine zweitwirkliche Schein- und Ersatzkirche, die der Trägheit der Gegenwart in höchstem Maß entspricht, und "von unangenehmen Fragen fernhält."




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