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Sonntag, 8. Juni 2014

Dem Geiste nach sehen

Die Welt ist nicht selbstevident, sie erschließt sich nicht aus den Empfindungen. Diese sind selbst bereits auf die Theorie angewiesen, auf die (geistig-menschliche) Deutung. Diese nimmt aus der Sinneswahnehmung lediglich ihr inhaltliches Material, an dem sie bzw. der Mensch wirkt. Was Ortega Y Gasset schreibt, ist auch der vielleicht tragendste Gedanke bei der Verfassung von "Helena oder: Das Gute ist was bleibt" (Eberhard Wagner, Passagen Verlag, Wien, 2. Auflage) und begründet den für manche so schwierigen Anfang. Der genau das zeigen soll: Die Dinge selbst sprechen nicht.

Man sagt nicht zu Unrecht, daß das gemeine Volksempfinden den Entwicklungen der Philosophie- UND der Wissenschaft - um ein- bis zweihundert Jahre hinterherhinkt. Nicht nur glaubt der VdZ, daß es bedeutend mehr sein kann, sondern die Disparatheit des heutigen Lebens, der Auseinanderfall des gesellschaftlichen Ganzen, das die Individuen auf sich zurückwirft, woraufhin dieses verzweifelt versucht, die Einbindung wiederzufinden, sondern die Tatsache, daß der heutige Mensch mit Sprache, mit Information pausenlos zugeschüttet wird, macht es dem gemeinen Mann in seinem Wechselspiel aus Notwendigkeiten kaum noch möglich, das Sinnesmaterial zu deuten.

Gefährlich wird es nämlich, wenn die Menschen glauben, wie es heute so oft verkündet wird, daß es nicht so sei. Daß eben die Empfindung auch die Erkenntnis gänzlich enthalte. Das verweist den Menschen auf etwas, das ihm keinen Halt zu geben vermag. Weshalb er von einem Ding zum nächsten eilt, um es zu genießen, um davon zu kosten - und nicht klüger, geeinter wird daraus. 

Aus den Empfindungen darf und kann nichts Originäres geschlossen werden, sie sind selbst Ergebnis einer Theorie. Vielmehr weisen die Empfindungen auf ein Problem hin, das nur in einer Theorie, von der sie als Glieder einer Kausalkette aufgefaßt werden, zu lösen ist. Außerhalb der Tätigkeit gibt es nur das Problem. Vor dem Urteil aber wiederum liegen die Akte, die der Erkenntnis ihre Materie liefern. Die Welt kann nur in diesem Doppelgesicht gesehen werden.

Doch die Welt ist für den Menschen, sie ist auf ihn ausgerichtet. Und über ihn erst auf Gott. Deshalb streben alle Dinge, alle Lebewesen auf ihn hin, und über ihn - auf Gott. In allem findet sich sohin  Verweisendes erst dann, wenn es der Mensch überzuführen vermag in den Geist. Und das ist nicht einfach "Denken", sondern dieses muß selbst in der Intuition liegen, sich auf das beziehen, was aus der "wahrhaftigen Wesensschau" (die die Reingung der Sittlichkeit braucht) erwächst.

Denn in der wahrhaftigen Reflexion muß dem Akt, dem Sinnesmaterial, seine Vollzugskraft genommen, diese ausgeschaltet werden. Es verlangt also die "Klammersetzung" über das Denken selbst, die Betrachtung des aus Akt und Wahrnehmung entstehenden inneren und reaktiven Bewegtseins.* Denn das Wirkliche ist nicht das "Bewußte", sondern klammert alles mit ein, übersteigt es.

Dem Empirismus, der meint, aus den Dingen (und Empfindungen) alleine erkennen zu können, liegt natürlich ein Funke Wahrheit zugrunde. Nämlich der, daß sich tatsächlich in der Erfahrung der Schlüssel zur absoluten Wirklichkeit selbst birgt. Aber er übersieht, so wie es heute generell übersehen wird, daß der Mensch nicht in jedem Zustand diese Wirklichkeit erkennt. Er übersieht den schweren Kampf den es braucht, um diese Wirklichkeit erkennen zu können. In einer Zeit wie der heutigen, in der sich jeder selbst heilig spricht, in einer Zeit, die sich selbst heilig spricht (und deshalb allen ihren Akten den Stempel des Absoluten aufprägt), in der die autonome, sich (etwa auch durch öffentliche, institutionalisierte Sühneakte - die political correctness läßt sich so verstehen - die Vergebung zur kulturellen Geste geworden ist, ein fundamentales Problem, ein Kulturproblem.

Deshalb sieht nur der geläuterte Mensch IN Gottes Geist (und nur vor dem Hintergrund des Glaubens an die göttliche Vorsehung, denn erst dann öffnet er sich dem Begegnenden, derst dann kann er überhaupt erkennen) in allem einen Gruß Gottes, überbracht von den Dingen, in denen er noch je nach Stufe allgemeiner leuchtet, ehe er sich im Menschen (und das macht die zentrale Bedeutung von Jesus Christus aus) zur Vollgestalt seiner Möglichkeit erhebt. Er sieht es tatsächlich, nicht virtuell (als Einbildung oder Selbsttäuschung gemeint). Deshalb kann man vom Geist Gottes als der einzigen, totalen Wirklichkeit sprechen, die je nach der sittlichen Reife des Menschen zugängig wird. Ohnendlich, weil das, was sie umfaßt, alles umfaßt was überhaupt möglich ist, und das ist ohnendlich.

Deshalb sieht aber auch der Mensch, der nicht in Gott ist, der nicht aus seinem Geist atmet, nirgendwo Gott. Und weil er in den Dingen, ihrer (ohnendlichen) Vielfalt, nichts sieht - sieht er nichts als menschliche, separate/disparate Gebilde, aus einer menschlich-reduktiven (endlichen) Theorie heraus, denen aber ihr Wesentliches fehlt: ihr Wirkliches.

Man sieht dem Geist nach, in dem man atmet.



*Man wäre geneigt zu sagen, daß hier auch die Psychologie viel beizutragen hätte. Wäre. Hätte. Hätte  man es nämlich heute nicht mit einer Psychologie zu tun, die ihre Grundproblematik nicht gelöst hat, Prämissen setzt, ohne es sogar oft zur Kenntnis nehmen zu wollen, damit "nicht weiß was sie tut", sich dabei aber verabsolutiert, und damit ihre Teilerkenntnisse oft völlig entwertet und irrelevant macht. Erst eine Psychologie, die ihre Begriffe (philosophisch) geläutert hätte, wäre brauchbar. Oder ist es wenigstens in beschränktem Rahmen, was derzeit nur von der Logotherapie gesagt werden kann, die genau diese Begriffsklärung im "Behandelten" zum Inhalt hat, freilich noch ohne ihren ontologischen Rahmen gefunden zu haben. Die besten Psychologen haben sich deshalb zu allen Zeiten im Beichtstuhl gefunden. Denn sie hatten auch den ontologischen Rahmen und Horizont, in dem der Mensch gesehen werden muß.




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