Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 29. August 2014

Wenn die Wahrheit sich einmal sehen läßt

Zwei Aspekte sind im umfassenden Bericht über die Mißbrauchsfälle von Rotherham in Mittelengland (Yorkshire) am interessantesten. Der Fall der (nur von 1997 bis 2013 geschehenen) konservativ geschätzten 1400 Mißbrauchsfälle reiht sich keineswegs ein in die naiven Vorstellungen von Mißbrauch und Vergewaltigung, in denen sich abgeblendete Realitätsflüchter diese Dinge vorstellen. Denn als zweites wird auf erschütternde Weise die hier immer wieder aufgestellte Behauptung des VdZ gestützt, daß Mißbrauch überhaupt noch ein als Einzelfall emprisch konstatierbares Verbrechen ist, sondern ein Problem unserer gesellschaftlichen Richtung.

Wer da aufgrund der Presseberichte hierzulande erwartet hätte, daß da Pakistani (und die sind als Haupttäter festgestellt, zum Teil auch bereits zu Haftstrafen verurteilt) in grobschlächtigem Auftreten sich brutal - vielleicht mit sabbernden Mäulern und Schlitzmessern in Händen - über arme kleine Mädchen hergemacht haben, hat ein Wirklichkeitsproblem. Auch wenn es die Zeitungen zumindest tendentiell meist so berichten, weil man sich das halt so vorstellt. Sie hätten den Bericht lesen sollen, was wirklich wie passierte.

Vielmehr waren nämlich diese Fälle getragen von einem unsittlichen Gesamtmilieu dieser heruntergekommenen Industriestadt mit einem Drittel Arbeitslosen, das aber keineswegs nur für Rotherham gilt, und auch nicht einfach mit den sozialen Problemen der Stadt oder als Einzelfall erklärbar ist (dazu weiter unten), sondern viel weiter verlängerbar ist als in dieser Industriestadt, die lt. Wikipedia einmal für die hohe Qualität seines Stahls berühmt war.

Wo selbst viele Taxifahrer - Nicht-Pakistani, Engländer - ihre abstoßende Rolle spielen. Dazu kommt natürlich ein für diese Komplexität (aber nicht nur dafür) völlig überfordertes, da und dort dann auch direkt versagendes System der Sozialarbeit und Kinderfürsorge, wie es in der Praxis einfach nie ausbleiben kann. Das es niemals schaffen kann, das Ausmaß an Gefährdung wie in solchen Fällen abzublocken. Genauso wenig wie die Schulen, die man für weitere Prävention noch strenger in die Pflicht nehmen will. Weil aber diese Übergänge empirisch so "schleichend", in so viel Normalität gebettet passieren, war auch hier die Reaktion etwa der Polizei, der Stadtverantwortlichen, der Bewohner der Stadt scheinbar oft so nachlässig und ignorant. Die Rücktritte seitens der Stadtverwaltung, die dem Druck der englischen Öffentlichkeit zu verdanken sind, helfen da wenig.

Aber auch damit muß man aufräumen, daß diese Geschichten nur Töchtern (und wenn auch in geringerem Ausmaß auch Söhnen) zerrütteten Familien oder "typischem" Ausländermilieu der untersten Schichte passiert sind. Zwar oft, ja, aber keineswegs so, daß man bei anderen Fällen von Einzelfällen sprechen könnte.

Vielmehr sind diese Kinder und Jugendlichen auf höchst subtile Weise fast ausnahmslos verführt worden. Und so mehr oder weniger rasch in eine Situation gerutscht, in der sie die Lage endgültig nicht mehr überblicken konnten, und ERST DANN kamen auch Faktoren wie brutale Gewalt und Erpressung ins Spiel. Liest man die geschilderte Systematik dieser Verführung, so kann einem bei offenem Blick erst klar werden, daß was hier passierte nur eine etwas überhöhte, durch den Ausgang der Geschichte nur scheinbar so deutlich gewordene Geschichte ist, die aber das Wesen der Gegenwart beleuchtet. Die Schleusen, die sich hier so erkennbar äußerten, sind aber weit größer und längst geöffnet. Allgemein.

Man hat diese Kinder und Jugendlichen, vorwiegend Mädchen, aber auch Jungen, höchst effektiv mit der Selbsttäuschung gelockt, die man ja nur wenig anstoßen muß, daß sie die Situation völlig im Griff hätten. Ja, daß sie erwachsen, selbständig wären, bewiesen durch die Aufmerksamkeit der Erwachsenen, die sie als Geschlechtspartner ansahen, nicht mehr als Kinder, als vollwertig, als Geliebte, denen man eine Wohnung versprach, die man mit Handy und allem möglichen Konsumkram beschenkte. Sodaß sich nicht wenige (siehe den Bericht) geschmeichelt fühlten, wenn sie intime Photos machten und verschickten, stolz darauf waren, einen Partner zu haben. Der sie zu lieben vorgab, zu heiraten versprach, etc. etc. etc. Die schließlich ihrem Elternhaus den Rücken kehrten, ausrissen, weil sie nun selbst ihr Leben in die Hand nahmen, wie sie glaubten. Weil sie hier auch mit Alkohol und Drogen ihre Selbständigkeit dem Leben gegenüber beweisen konnten.  Entsprechend wurde bei polizeilichen Interventionen immer wieder entlastend die Freiwilligkeit der heute als "Opfer" Erkannten reklamiert und auch konstatiert. Auch von der Polizei. Die "wollten" gar nicht weg! Erst zumindest. Viele waren einfach als Fixer und Alkoholiker eingestuft, und als auf eine Weise promiskuer, die ja heute alles andere als ungewöhnlich ist.

So wurden sie geschickt aus ihrem sozialen Umfeld herausgelöst, in ein neues eingebunden, in dem ihnen aber endgültig alle Kriterien fehlten, sodaß sie die neuen, angebotenen Wertegerüste, ja das was doch so allgemein heute ist, nur aufgriffen. Was, bitte, macht heute etwa die Schule in unseren Landen anderes, wenn sie unter dem Giftwort "Chancengleichheit" jede soziale Herkunft, jede Identität auszulöschen versucht? Was machen Lehrer anders, die dem Willen der Eltern widersprechende Werte implantieren, "weil es der Lehrplan so vorschreibt"? Die die Kinder gezielt und direkt lehren, daß sie sich nicht an die Anweisungen der Eltern zu halten hätten, daß Gehorsam ein faschistisches Verbrechen ist? Daß sie ihren Lebensentwurf selbst bestimmen müßten? Vom Umgang mit Sexualität und ihrer Bewertung gar nicht zu reden. Die Beispiele, die der VdZ seiner Erfahrung entnimmt, ließen sich noch lange weiterführen.

Eine enorme Rolle im Rekrutieren dieser jungen Mädchen spielten dabei die social media. Und junge Burschen, die quasi als "Türöffner" diese Mädchen kontaktierten, so wie ein junger Bursche heute wohl ein Mädchen kontaktiert, der "harmlose" Bekanntschaften sucht.

Aber diese Harmlosigkeit - und das soll hier ausgesagt werden - gibt es längst nicht mehr. Sie ist keine Kategorie des Erlebens, sie ist nur im Bezug auf die Ontologie, sie ist nur mit entsprechender Anthropologie feststellbar. Mit der heutigen Anthropologie jedensfalls nicht mehr. In der alles das, was hier dann als Mißbrauch schließlich identifiziert wurde aber so harmlos einleitete, als normal, ja sogar als richtig gilt. Ja diese Vorstufen zum Mißbrauch sind längst zum Normalitätsdruck ausgewachsen. 

Wo es normal ist, Dinge zu tun und tun zu dürfen (weil die Eltern in derselben Täuschung leben, wie die Lehrer, die Sozialarbeiter, die Polizisten ...), die eben keineswegs dem Wesen des heranwachsenden Menschen gemäß sind. Dessen Urteilsvermögen eben heranwachsen muß, keineswegs "aus ihm selbst" erwächst. Denn Mißbrauch ist - sieht man von brutalen Gewaltakten ab, aber die sind die Ausnahme, ja die sind harmloser, weil identifizierbarer, von sich abstoßbar - keineswegs eine Kategorie, die sich empirisch direkt feststellen läßt. 

Der bloße Akt, der etwa den sexuellen Mißbrauch beschließt, wird keineswegs als Vergehen erfahren, und zwar je jünger, desto weniger. Der Fall Rotherham wäre kaum aufgefallen, wenn er nicht in nahezu allen Fällen in wirkliche Brutalität ausgeartet hätte, mit denen die Mädchen bzw. Jungen zu Dingen gezwungen wurden, die schließlich doch ihr empirisches Erfahren des Normalen überstiegen. 

Mißbrauch aber ist eine Frage der Reife des Selbst. Da hilft kein noch so durchdachtes Präventionsprogramm, das ja auch in Rotherham instaliert war, nun eben verbessert werden soll. Es gibt keinen wirklichen methodischen Schutz vor Mißbrauch, sieht man von elterlichen Verboten ab, die durch Gehorsam verankert auch befolgt werden, ohne daß das Kind noch weiß, warum. Dazu bräuchte es eine kulturelle Norm, die gezielt in den letzten Jahrzehnten abgebaut und vernichtet wurde. Von genau jenen, die nun als Sozialarbeiter und Oberempörer auftreten, und noch mehr Sozialfürsorge fordern. Nur eines hülfe: Verantwortung. Die nicht erst ansetzt, wo ein Sozialprogramm beginnt. 

Aber wenn wie heute schon Kinder behandelt werden, als wären sie Erwachsene, wenn sie sich im Mittelpunkt erfahren, dem jede Aufmerksamkeit zu schenken ist, der in allem ernst und für voll genommen wird, weil sie alles dürfen, was die Welt eben so anbietet, die erzogen werden daß die Normen ihres Handelns "in ihnen selbst" liegen, sie ihrem eigenen Wesen nicht erst nach- bzw. einwachsen müssen ... das klingt schon sehr wie die Initialgeschichten von Rotherham. Wo eine Limousine oder ein Taxi vorfuhr, um die "Geliebten" (auch 11-, 12-, 13jährigen) von der Schule abzuholen, wo weltweite Reaktionen auf ihre intimsten Photos eintrafen, und die Mädchen geschmeichelt vor der Welt mit ihrer Erwachsenheit auftrumpften.

Sie meinen, werter Leser, daß das übertrieben wäre, zu radikal gesehen? Dann darf der VdZ anraten, sich einmal etwas mehr mit aktuellen oder in Buchform vorliegenden vergangenen ethnologischen Berichten auseinanderzusetzen. Die nämlich zeigen, wie das, was wir heute als Mißbrauch deklarieren, bei vielen Völkern und Sozietäten völlig normaler Alltag war, und sogar noch immer ist. Weltweit. Und nicht einmal auf einzelne Religionen einschränkbar. Weil es mit der sittlichen Höhe einer Kultur zu tun hat (was durch öffentlich geltende Moral keineswegs zutreffend beschrieben ist, wie man beim Puritanismus etwa, aber generell feststellen kann). Nicht mit der Gier einiger Einzelner, die ein Verbrechen begehen, sodaß das Übel beseitigt ist, wenn man diese und jene hinter Gitter schiebt. 

Rotherham war ein Dammbruch? Wir stehen im gesamten Westen mitten in einem Dammbruch. Rotherham ist die konkrete Darstellung eines Kräftegefüges, das wir nur dann erkennen, wenn es einmal über bestimmte Stränge schlägt. Dann schlagen wir erschrocken bestimmte Symptome tot. (Wobei - political correctness hin, political correctness her, es ist ja auch hier viel komplexer - in diesem Fall das Böse zu identifizieren half, daß die Täter schmierige, sogar muslimische, und weiß Gott dunkelhäutige Pakistani waren ...) Den Druck dorthin aber bauen wir täglich weiter auf. Und oft genug exakt mit dem, das diese Symptome verhindern soll. Weil auch bei uns Mißbrauch bereits ein alles durchziehender Grundzug des Miteinander geworden ist.

Mißbrauch aber ist ein Grundschema der Unfreiheit, das sich auf alle Lebensbereiche erstrecken kann und erstreckt. Wo der Mißbrauchte in den Glauben versetzt wird, er selbst würde das, was ihm geschieht, wollen. Wo das Gegenüber dazu gebracht wird, tatsächlich etwas "zu wollen", zu etwas zuzustimmen, was ihm in seinen tieferen und damit wesentlichen Wurzeln aber schadet. Worauf er aber erst mit der Zeit draufkommt. Weil das, worüber "er" hier entschieden hat, seinen Entscheidungshorizont (der ja bewußt auf seine momentane Verfaßtheit und Gefühligkeit reduziert wird) weit überstieg, und nur mit entsprechend geistigem Rüstzeug bzw. mit ausgereifter Vernunft erkennbar wäre. So, wie die Kinder in Rotherham, die irgendwann nur noch zu leiden begannen, und heute zu einem großen Teil als psychisch schwer geschädigt angesehen werden müssen. Daß wir diesen Grundvorgang, der unser alltägliches Leben bereits in Permanenz bestimmt, so auf Sexualität und Einzelfälle wie hier einschränken, ist selbst bereits eine Aussage.




***