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Donnerstag, 11. September 2014

Heute wie damals

Hermann Graf Keyserling beschreibt ein Treffen mit dem sowjetischen Kultusminister in den 1920igern. Bei einem Staatsbankett im preußischen Kultusministerium hat er ihm die Frage gestellt, wie die Bolschewisten es wohl fertigbrächten, eine so erstaunliche Zahl hochbegabter Männer für ihre Propagandatätigkeit im Osten zusammenzubringen. 

Lunatscharsky's Antwort war spontan: "Es ist ja keine Rede von exzeptionell befähigten Männern. Irgendwie aber scheint die Ausbildung im Geist des Marxismus sogar Dummköpfe im Osten intelligent zu machen."

Keyserling war verblüfft, und wollte sichergehen, daß er ihn richtig verstanden hatte: Ob er ihm darin beistimme, daß der Marxismus die Geistesgaben der Europäer durchaus nicht steigere?

Lunatscharsky gab das freudig zu. 

Keyserling führt dann seine Gedanken dazu aus: Das rein animalische Ideal des Marxismus regt notwendig alle Geisteskräfte an, die primitiven Orientalen überhaupt zur Verfügung stehen, genau so, wie jede Mutter klug wird, wenn ihres Kindes Leben Gefahr droht. Jenen armen Teufeln in ihrem traditionellen halbverhungerten Zustand, die überdies von jeher an Bedrückung und Ausbeutung gewohnt sind, kann mögliche wirtschaftliche Befreiung kaum weniger bedeuten wie den Frühchristen das ewige Heil. Als neue Frohbotschaft verkündet sie, daß materielle Werte aus nichts geschaffen werden können. Und dies wird in einer derart einfachen Form gepredigt, daß selbst der größte Einfaltspinsel es begreift. DESHALB wirkt diese Idee so belebend.

Dasselbe, so Keyserling, ist von der russischen Wissenschaft zu sagen. Wenn die Sowjetunion (der Stalin'schen Zeit, Anm.) in den Wissenschaften eine so bemerkenswerte Rolle spielt, ist es deshalb eine wirklich "nationale Leistung". Aber aus denselben Gründen, und diese Gründe gelten in derselben Weise für die USA: Befreit von Traditionen, wird zuerst einmal eine große Menge Energie frei. Beide Länder sitzen (bzw. saßen) auf einer von der Vergangenheit befreiten jungfräulichen (zwangsläufig formlosen, bestenfalls von puritanischen Moralismen gepreßten) Scholle, und damit auf der Stufe der Primitivität. 

Nunmehr trifft diese Energie der Primitivität, die kulturelle Formen gar nicht kennt, in der sie zu (bzw. im) Geist gebunden wäre, mit wissenschaftlichem und technischem Können zusammen. Technik bzw. Technizismus, die ihrer Natur nach späte Verfallserscheinungen einer Kultur sind, werden damit zwangsläufig vorangetrieben. Ohne daß es noch auffällt, daß sie vergangene Leitideen ("Fortschritt" - eine Idee des 17. Jhds.) so lange (aber mit immer größerer Wut) reiten, bis sie endgültig erschöpft sind.

In diesen Voraussetzungen stimmen sowohl die USA wie die ehemaligen kommunistischen Länder also völlig überein. Und mit nichts anderem erklärt sich die Affinität vieler Europäer, die ihrer Kultur entfliehen wollen - und sich in den USA ihr bestes Wirkungsfeld sehen. Die dieselben Voraussetzungen der Primitivität suchen weil haben. Nur steht ihnen in Europa immer noch ein (wenn auch klapperig gewordenes, oft auch bereits totes) Formengerüst entgegen, das sie an ihrer "Entfaltung" hindert. 

Wobei sich Europa die größte Mühe gibt, diese Stufe der Primitivität so rasch als möglich auch zu erreichen. Aber die Fortschritte der USA auf allen wissenschaftlich-technischen Gebieten, so Keyserling (und es klingt, als hätte er es heute geschrieben), sind logische Folgen ihrer Primitivität. Unbeschwert von Geist, dessen Problematik sie in ihrem historischen Prozeß der Verjüngung (der sie auf die Stufe von Kleinkindern katapultiert hat - entsprechend verhalten sie sich auch) gar nicht mehr erkennen können.

Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, daß der Amerikaner mit einem Selbstbewußtsein auftritt, das jedem geistig bewußten Menschen fremd sein muß - und er schreitet damit voran wie ein Tier. Seine geistigen Bedürfnisse befriedigt er durch primitive (und das sind nicht: frühe!) Formen von Religion und Philosophie. Etwa wie Christian Science, einer Art schamanistischer Religonsform; oder im Fundamentalismus als Ausdruck rohen Tabuismus, mit einer Fülle von Angstmechanismen, wie sie auf primitive Seelen eben zu wirken vermögen.

Je primitiver ein Mensch ist, desto mehr neigt er von sich auf die Allgemeinheit zu schließen. Die Wurzel allen Aberglaubens, übrigens. Sieht man den Menschen als Tier, so neigt man naturgemäß zur Meinung, daß alle Probleme auf die gleiche Art zu lösen wären. Darin gründet der amerikanische (und darin bereits weltweit gewordene) Pädagogismus bzw. "ecucationalism", mit der die USA heute wie nie auftreten.

Keyerling illustriert das 1930 mit einer Reklame, die er zitiert: Mann und Frau fahren von einer Abendgesellschaft nach Hause. Sie sagt zu ihm: "Du warst heute unglaublich - geistreich, witzig, originell!" - Er: "Aber auch Du kannst originell sein, Liebling, Kauf Dir dies Buch XY, es enthält so viel originelle Gedanken, wie du nur brauchen kannst."

Oh ja, es wird auch in Europa viel über Geist und Freiheit geredet. Aber das Handeln so vieler, das in Europa nur noch eine Spur verschlagener und bösartiger ist, alle Anzeichen eines kollektiven Mobbings (aller gegen alle) trägt, zeigt, wie weit es in Wahrheit bereits gekommen ist.




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