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Sonntag, 5. Oktober 2014

Der Staat als Sphäre für sich

Aus prinzipiellen Gründen, schreibt Edith Stein, kann der Staat selbst nicht Träger eigener religiöser Werte sein. Er kann oder muß sogar ihre Ausbildung ermöglichen, kann sie indirekt auch fördern, aber er selbst gehört keiner persönlichen Sphäre an, er selbst kann also kein ethisches Element selbst sein. Selbst die Hingabe an den Staat, eine hoch ethische Frage, ja unter gewissen Bedingungen Voraussetzung eines Staates, weil der Wille wie die Fähigkeit zum Eigenstand eines Volkes im bzw. als Staat wesensnotwendig gehört, ist eine rein persönliche Sache seiner Bewohner. 

Aber die Sphäre des Religiösen ist ihrer Natur nach persönlich. Ein Staat kann sie nicht "machen". Er kann sie begünstigen, er kann oder muß sie sogar ermöglichen, aber er kann sie nicht machen, ja nicht einmal (befehlend) fordern. Es gibt ihn also nicht, den "Heiligen Staat", es gibt nur mehr oder weniger heilige Menschen, ja mehr oder weniger heilige Volksgemeinschaften, die in ihm leben. Wenn diese die staatliche Autorität über Recht und Ordnung aber nicht anerkennen, so arbeiten sie an der Auflösung des Staates, und dieser muß sich dagegen zur Wehr setzen. Aber sein Maß kann nur die Tat sein, nicht die persönliche Haltung seiner Bewohner.

Nun ist es freilich notwendig, daß sich ein Staat auf das sittliche Verlangen seiner Bewohner stützt. Also ist es ein staatsfeindliches Verhalten der Staatenlenker selbst, wenn sie diese seelischen Kräfte der Individuen nicht zu Verbündeten, sondern zu Feinden machen. Weil das Individuum aber in jedem Fall in der Religion ansetzt, muß der Staat also die Religionsausübung unbehindert entfalten lassen.

Weil aber ein Staat nur auf der Grundlage eines geeinten Volkswillens bestehen kann, kann es sein, daß das Auseinanderfallen seiner Bewohner in unvereinbare, disparate seelische Dispositionen den Bestand eines Staates von innen heraus gefährdet. Denn in jedem Fall ist der Mensch - auch das hat der Staat zu respektieren - zuerst Gott und seinem Gewissen diesem gegenüber verantwortlich, und DANN erst dem Staat. Erläßt er also Gesetze, die der religiösen Welt seiner Bewohner widersprechen, so löst er sich auch hier auf. Denn nie kann sich ein Staat gegen diese Wirklichkeit auf Dauer halten. Er muß also seinen Bewohnern ermöglichen, Gott zu geben, was Gottes ist, und dem Kaiser, was diesem zubehört. Das ist aber nicht seine Religion.

Aus religiösem Empfinden und Sosein aber ergibt sich nicht zwingend eine "Form des Staates". Der Staat ist vielmehr einfach der Ort, und zwar egal in welcher Form, AN DEM sich Sittlichkeit (in ihrer Zubehörigkeit zu Religion) entfalten kann und muß. Der Staat ist also einerseits auf die Sittlichkeit seiner Bewohner angewiesen, anderseits aber gehört er dieser Sphäre nicht direkt an.

Gleichzeitig aber schließt das nicht aus, daß sich eine Volksgemeinschaft (die wiederum aus vielerlei Gemeinschaften und Gesellschaften besteht), die sich zum Staat bzw. als Staat zusammenschließt, sich einen Staat in Form einer Theokratie selbst gibt. Der also die Staatsakte als Einheit mit dem Willen Gottes auffaßt. Das verlangt aber freilich, daß sich die Staatsorgane selbst diesem göttlichen Willen unterstellen. Der aber keine inhaltliche Vorformung bedeutet, sondern nur in besonderer Weise Instrument der (religiösen) Sittlichkeit seiner Bewohner ist. Seine Gesetze aber müssen in Einklang mit göttlichen Geboten stehen, ohne diese freilich "befehlen" zu können. Er kann aber den Verstoß dagegen, als Verstoß gegen die Verfaßtheit und damit den Bestand eines Staatsvolkes, mit Strafe belegen. Staat bedeutet eben, daß sich ein Volk sein Schicksal selbst gibt, in allen Konsequenzen.

Gerade dieser Auffassung des Staates aber entspringt gleichermaßen die Freiheit der Form, in der solche Theokratie statthaben kann. Denn wenn jede weltliche Macht letztlich auf Gott zurückgeführt werden muß und kann, so ist es auch gleichgültig, welche Gestalt diese Macht hat. Jede empirische Staatsform kann dann Gottes Willen ausdrücken.

Das sagt noch alles nichts über die "weltliche Tauglichkeit" oder Klugheit solcher Staatsverfaßtheit vor allem im Umfeld anderer Staaten. Und es ist auch hier zu beachten, daß der Staat nur bestimmte Befugnisse hat. Jene, die eben seiner Ebene beigehören. In Rechtssprechung, in Rechtspflege wie -setzung, in der Kriegsführung. 

Auch in einer Theokratie also gibt es unzulässige Überschreitungen des Staates, man denke etwa an die Integrität der Familie. Er bleibt selbst in einer Theokratie eine Sphäre für sich, die lediglich von Personen konkretisiert, ausgeführt und repräsentiert wird. Und das kann praktisch auch gegen den Staatssinn verlaufen. Der bis ins Mittelalter heraufgehende Begriff des Königs als Stellvertreter Gottes hat nie ausgeschlossen bzw. eingeschlossen, daß dieser damit verpflichtet ist, sich dem Volkswillen gemäß nach Gottes Geboten zu halten. Verstieß er dagegen, verstieß er gegen die Verfaßtheit des Staates, und diese Person war untauglich. Das Widerstandsrecht war im germanischen Königsbegriff außerordentlich ausgeprägt. Nie ist er zu einer Identifikation der faktischen Person mit dem Staatsamt geschritten. Umgekehrt schreibt Gott nicht vor, welche Zölle zu erlassen oder welche Straßen zu errichten oder welche Butterbrote zu schmieren sind.

Umgekehrt verlangt das Begreifen dieser Differenziertheit nicht, daß ein Staatenlenker die Religion bzw. die sittliche Orientiertheit des Volkes ausklammern muß. Zwar darf er die Sphären nicht vermischen, aber prinzipiell ist nicht zu kritisieren, wenn wie in der Türkei die Frau des Präsidenten Kopftuch trägt. Das ist an sich noch lange keine Gefährdung des Staates, eher vermutlich sogar zum Gegenteil, ja es könnte Ausdruck großer politischer Klugheit sein.

Auch geschichtlich ist diese allmähliche Ausdifferenzierung nachvollziehbar. Es sind Schritte der voranschreitenden Erwachsenwerdung des Menschen, in einem Ausgreifen der Verantwortlichkeiten durch Steigerung der Durchdringung der Welt (in bzw. als Freiheit). Ähnlich, wie es das Kind erst noch erlebt, daß Gott und Eltern (zulaufend auf den Vater) - in einer (darüber dann hinausweisenden) Analogie - ineinander fallen, entwickelte sich historisch aus dieser ursprünglichen Erlebenseinheit eine allmähliche Differenziertheit, ein wachsendes Begreifen der verschiedlichen Sphären.

Es stehen sich also immer, so Edith Stein, religiöser Anspruch und Staat auf eine Weise gegenüber, und das ist ein prinzipiell unlösbares Problem. Es ist eine Zweiheit der Absolutheiten, die als solche nicht ineinander aufgehen können, weil der Staat menschlicher Freiheit unterliegt, ja diese erfordert, die gleichzeitig aber der absoluten Sphäre Gottes verpflichtet ist. Hier kann es nur faktische Lösungen geben. Auch die Theokratie ist nur eine Form dieses faktischen Ausgleichs, will sie nicht zum Götzendienst werden.



*051014*