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Sonntag, 30. November 2014

Reflexivität und Beschleunigung

Es ist ein großer und schrecklicher Irrtum, der viel mehr mit Täuschungsmanöver zu tun hat, zu meinen, die Unterschiede der Haltungen zur Welt, als wirkliche Unterschiede unter den Menschen, wären aus inhaltichen Definitionen erkennbar oder würden sich gar darin erschöpfen. Denn es sind in Wahrheit spirituelle, in der subjektiven Spiritualität gründende Differenzen, die die Welt auseinandergerissen haben.

Und sie sind bezeichen-, aber schwer im Zwischenmenschlichen argumentierbar, weil sie in der zwischenmenschlichen Kommunikation auf eine Aporie stoßen. Die der Diskretion, in der dem anderen Freiheit und Sosein belassen wird. Denn ein Argumentieren würde ein direktes Eingreifen in das Seelenleben des anderen bedeuten. Nur die lebendige Predigt könnte das leisten, der Beichtstuhl gleichermaßen, oder und gerade: die Kunst, die Ebene des Symbolischen. Denn nur auf diesen Ebenen wird der Mensch ins tiefste ontologische Mark getroffen.

So ist auch der entscheidende Unterschied, den Luther ins Christentum einführte, nicht auf der Ebene von Dogmen und Glaubensbekenntnissen zu begreifen. Die entscheidende Wende Luthers, die das ganze Abendland wie Sauerteig durchwachsen hat, ist die Wende zum Reflexiven. Nicht einmal mit dem Wort "subjektiv" läßt sich das beschreiben. In Luther wurde das Transzendente nämlich nicht nur ins eigene Erleben verlegt, sondern das eigene Erleben IST SELBST das Ontologische. Indem Luther das Heil und die Wahrheit in das Erleben subjektiver Gewißheit(en) verlegte, mit allen unlösbaren Widersprüchen, die sich daraus ergeben, wurde Wahrheit und Gnade zum psychogenen Erlebnis. Wurde Spiritualität zur Hervorrufung von Gewißheits- und Trost- und -Heilsgefühlen.

Die gesamte Entwicklung der Philosophie, das Auftauchen der Psychoanalyse, die gesamte Veränderung der Naturwissenschaften, sie alle zeugen davon, daß der Mensch, der sich in Wahrheit nie vom Gegenüber des Seins lösen kann, diese Steine, die der Wahrheit mehr und mehr im Wege liegen, erkennt, ja benennt. Aber nicht in ihre Ordnung stellen kann. Sodaß alle die Thesen und Theorien und Philosophien der letzten Jahrhunderte im letzten ein Versuch sind, den Wahrheitsbegriff dadurch zu retten, indem er um die Problemzonen persönlicher Spiritualität herumgeleitet wird. Sie wurden Rechtfertigungsversuche in die Wahrheit hinein, die zwangsläufig im Rationalismus und im Konstruktivismus enden müssen, als Etikettenschwindel allererster Güte. Weil sie die persönliche Substanz der Wahrheit irgendwann über Bord werfen müssen.

Umso vehementer werden Wortgebilde zu Kriegsinstrumenten geformt, hier, oder völlig ignoriert, dort. Weil deren Öffnung auf die persönliche Substanz der Wahrheit hin die persönliche Reaktion bräuchte, und damit die Gefahr einer Erschütterung einschließt, die nicht ausrechenbar ist. Die Ablehnung der Tradition, die Ablehnung der Autorität der Väter, der weiblichen Fleischlichkeit als "vorhandene Predigt", als Eckstein eben dieser persönlichen Verankerung von Wahrheit, erzählt davon.

Nachgerade umgekehrt wurde dafür der spirituelle Weg zur Beliebigkeit erklärt, um so persönlicher Verantwortung und psychischer Problematik auszuweichen. Wurde die Auseinandersetzung mit Gott und Wahrheit zum Streit der Schilder, die jeder so rasch als möglich beschriftet und vor sich her trägt.

Die einzige Möglichkeit der Läuterung der Wahrheit aber besteht in einem Streit der Sittlichkeit, und das heißt nicht primär: Moral, wenngleich AUCH. Sie besteht auch nicht - auch das eines der Schattengefechte - im Nachweis und in der Verurteilung persönlichen Fehlen in einer Situation und Lebenslage. Die Sittlichkeit, auf die es ankommt, ist der Wille, trotz der Schwäche immer wieder neu das Ziel der Freiheit anzustreben, immer wieder die eigene Wahrhaftigkeit zu suchen, und nicht nachzugeben in den zahllosen Möglichkeiten, diese Wahrhaftigkeit zu übertölpeln und sich und andere zu betrügen.

Es ist dieselbe Ungeduld, die Luther vorzuwerfen ist, der mit seinem Scheitern, diesem nie endenden Erleben realer Bedürftigkeit nicht fertig wurde, die der Beschleunigung der zivilisatorischen Lebensvorgänge zugrunde liegt. Denn wo ich das Heil, die Rettung nicht mehr von außen erwarte, real und konkret und fleischlich, als Gnade, als Gabe die ich nicht "machen", nur empfangen und erhoffen kann, wird sie zum notwendig zu Machenden. Während gleichzeitig damit das Vertrauen in das Sein der Welt - und damit in ihren Sinn - verdunstet. 

Solcherart aber entwurzelt, zum Luftballon geworden, der über dem Boden schwebt, wird Heil zur hysterisch herzustellenden Gedankenwelt, wird Wahrheit zum Webteppich, dessen Muster ich so rasch als möglich und so dicht wie möglich durch Integration von "Richtigem" weben muß: das Zeitalter der omnipräsenten Medien, die aber existentiell notwendig sind, ja die die Matrix des Existentiellen sind, die Ära der Sprache, die wie Schnittblumen behandelt wird, brach an. Die Angst wuchs und wächst, und zwar reziprok-korrelativ, daß sich eines Tages doch das Sein melden könnte, die Steine, die unter den höher und höher geschichteten Matratzen verborgen wurden, könnten wieder durchstoßen. Real und geschichtsmächtig, aber nach seinem Willen. Nicht einfach als "psychisches Erlebnis", als wäre Welt und Geschichte in den Grenzen des Zuckergeschmacks befangen.

Und in falscher Spiritualität meinen wir, daß das Sein - als bedrohliches Element, denn es zwingt, es fügt sich nicht, es läßt uns ohnmächtig sein - in dem Moment nicht  mehr vorhanden wäre, wo es gelingt, die Angst zu verdrängen. Als wäre Religion das Einwerfen einer Droge und Spiritualität die subjektive Psychomechanik, in diesem Wohlgefühl möglichst lange zu verharren.



Literaturempfehlung zum Thema: Paul Hacker, "Das Ich im Glauben bei Martin Luther"; Eric Voegelin "Luther und Calvin"; Sören Kierkegard "Angst"; Paul Schütz "Zwischen Nil und Kaukasus"; Ferdinand Ebner "Pneumatologie"; Walter Hoeres "Reflexivität und Reflexion"




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