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Dienstag, 3. Februar 2015

Methodik des Mißbrauchs

Hier, nimm das Auto.
Ich will kein Auto.
Willst Du rot oder grüne Innenausstattung?
Ich will kein Auto.
gefällt die ein Ledersitz besser als ein grüner Textilsitz?
Ich will ...
Na, was gefällt Dir besser? Leder?
Ja, Leder.
Und das Lenkrad in Holz, ist das nicht toll?
Ja, es ist toll, aber ...
Man sagt, daß es bei Unfällen gefährlich ist. Bist Du auch der Meinung, daß Holzlenkräder bei Unfällen gefährlich sind? Wir beschließen ein Gesetz, das es verbietet.
Sicher, Kunststofflenkräder sind bei Unfällen unproblematischer.
Bist Du nicht für Sicherheit, für Lebensschonung?
Ja, sicher.
Hier ist das Auto, sieht nur die Ausstattung! Wie sind die Sitze?
Leder.
Siehst Du, das ist jetzt Dein Auto.
Aber ich habe doch nur ...
Und alles ist so, wie Du es ausgesucht hast.

Und fortan wird nur noch über Leder- oder Textilsitze diskutiert.

Die Grundentscheidung liegt aber woanders. Sie mit gefällt zu haben, wird dann unterschoben, indem das Sprechen auf eine andere Ebene gehoben wird - von der bloßen formellen Sprache wird (beliebig, für das Gegenüber nicht festmachbar) zur eigentlichen Sprache (die ein Sprechen vom hinter dem Sprechen sich Aussprechenden ist) gewechselt.

Das funktioniert beim TTIP derzeit genau so: Als sich voriges Jahr an einem Detail - Unternehmen sollten Staaten vor ordentliche Gerichte ziehen könne, wenn sie den Wettbewerb einschränken - das Thema entzündete, und sofort zum Grundsatzthema wurde, schwenkte man um. DIESE Regelung soll ja nun verhindert werden, versprachen die Politiker. Und nun hat die EU auch erstmals einen Teil der Verhandlungspunkte öffentlich gemacht (im Netz abrufbar). Um die diffusen Ängste der Menschen auszutrocknen.

Aber das ist eine Täuschung, eine Täuschung durch Ablenkung vom eigentlichen Thema, das damit elegant vermieden wird. Denn über den Grundsatz selbst - ob eine solche Freihandelszone sinnvoll ist oder nicht - wird überhaupt nicht diskutiert. Das scheint sogar längst beschlossene Sache, als ginge es nur noch um den modus vivendi. Also hat man dafür gesorgt, daß zukünftig nur noch über Vertragsdetails diskutiert werden wird. Dafür sind alle zufrieden, daß einige Lebensmittelmarken geschützt werden sollen, und es kein Chlorhuhn geben wird. Und die Frage wird zum Schluß lauten: Hat man nicht alles berücksichtigt, was die Menschen wollten?

So manipuliert man die Menschen? Nein. So mißbraucht man sie. Denn dieses Vorgehen ist eben das Vorgehen eines Mißbrauchers, der die Zustimmung zu einer eigentlich irrelevanten Teilfrage - denn es geht ja um etwas viel Grundsätzlicheres - zum Hauptentscheidungsprozeß umbenennt. Auch mit dem TTIP werden ganz andere Grundsatzfragen entschieden als Teilfragen wie Chorhuhn oder Markennamen für Thüringer Bratwurst, die in Chicago hergestellt etwas anders heißen muß wie die aus der Schlachterei in Erfurt.

Die Ängste aber, das Unbehagen, bleiben. Denn das die Welt Bewegende ist das Sein, der Geist. Wort, das aber zum Wort kommen muß. Bleiben die wirklichen Seinsfragen, die Hauptfragen unbenannt, werden sie zur diffusen Wirkkraft, die sich ganz andere Betätigungsfelder wählen muß. Die aus dem auswählt, was benannt werden kann. Nur darauf kann sich Wille bewußt richten. Und plötzlich tauchen durchaus fragwürdige Bewegungen auf, die aber eigentlich etwas anderes meinen, das das Eigentliche ist, das sie mitführen, das sie aber nicht zum Ausdruck bringen können.

Doch in einem täuschen sich die Mißbraucher. Zwar gelingt es ihnen, das Bewußtsein abzulenken, fehlzuleiten. Aber die ontologische Kraft selbst, die aus dem Ich kommt (das aber erst zum Selbst werden muß), wendet sich an das, was ihr fundamental entgegensteht. Sie sucht nur andere Wege.

Es ist wie im Verkauf: Das eigentliche Motiv, um das es dem Käufer geht, liegt zwei oder sogar drei Antwortschichten unter dem zuerst genannten. Fehl geht DER (Verkäufer), der sich an die erste Schichte klammert und meint, den Kunden darauf festnageln zu können. Und wenn es ihm doch gelingt, auf dieser ersten Sprechbasis die Unterschrift zu erspielen, wird er es in den allermeisten Fällen (denn es gibt natürlich solche, aber nur sehr wenige, die bewußt genug sind, um die eigentliche Basis bereits auf der Zunge zu tragen) mit auf seltsame Weise unzufriedenen Kunden zu tun haben. Die etwa über ein Detail streiten, in das sie all jene prinzipiellere Kraft legen, die sie aber nicht begrifflich fassen konnten. 

Oder: wollten. Weil das, was sie eigentlich wollten, jenem Moralcodex nicht entspricht, der das Wesen der Sprache - die ein Allgemeinwesen ist - autoritativ kennzeichnet. Niemand gibt zu, betrügen zu wollen. Niemand gibt aber auch zu, gegen einen offiziellen, nominalen, per Definition inhaltlich festgelegten Wert verstoßen zu wollen. 

Im wesentlichen heißt das: gegen die "Gutheit", die in bestimmten Verhaltensweisen spezifiziert ist. "Leder oder Textil? Leder? Du bist also für die grausame Massentötung vom Aussterben bedrohter Aligatoren?" "Schutz der Identität? Du bist also für die Diskriminierung von Zuwanderern und das Ertrinkenlassen der Boatpeople vor Sizilien?" "Du findest ein Papstwort falsch? Damit stellst Du Dich außerhalb von Kirche und Heil!"

Der sicherste Weg übrigens, um Gutheit und Sittlichkeit zu verhindern.*

Die eigentlichen, die ontologischen Bewegungen unter, hinter aller Sprache zu erkennen, im Begreifen, im Benennen, darum geht es. Und erst daran entscheidet sich Sittlichkeit, und damit: Freiheit. Sein, das der Mißbraucher eben methodisch ignoriert.

Deshalb ist Mißtrauen hoch berechtigt, sobald man mit dieser Methodik konfrontiert wird. Denn es verbirgt sich dahinter eine nicht benannt werden sollende Absicht, das Sein, vor dem man sich aber fürchtet, weil es die Absichten durch Freiheit des anderen zerschlagen könnte.


*Wenn auch, umgekehrt, noch lange keine Garantie, daß man die eigene Freiheit besitzt. Aber außerhalb von Freiheit und Verantwortung (und damit Wahrheit) gibt es erst gar keinen Weg ZUR Sittlichkeit. Für den Erwachsenen, wohlgemerkt. 

Das Freiheitsproblem bei zu Erziehenden stellt sich ja  anders. Denn Erziehung heißt: Erziehung zur (möglichen) Freiheit hin (die ein Akt der Selbstbestimmtheit in Vernunft ist), sodaß der Weg zum Erwachsenen einer des allmählichen Vorbereitens auf die einmal mögliche Freiheit (die in Wirklichkeit ja freier Gehorsam dem Sein gegenüber ist) sein sollte. Denn das Baby, der Jugendliche - sie sind NOCH nicht frei. Erziehung kann Freiheit auch nicht "machen", sie darf sie aber nicht verhindern, sondern muß auf die Selbstergreifung in Allmählichkeit hinlenken. Mit klaren - gegenüberstehende Objekte späterer Entscheidung! - Ver- und Geboten, deshalb auch mit Strafen. (Der Geisteskranke, der psychisch Gestörte, ist u. U. ja nie frei.) Edukanden zu führen heißt, sie zur Freiheit bereit machen, die sie dann bei ausreichender Kenntnis der Seinskonturen der Welt (=Wahrheit) ausüben können. Von der Körperbestimmtheit, der Bestimmtheit durch das Einzelne (auch sinnlich solange noch Dominante) weg - hin zum Logos, zum Sinn in der Ordnung des Gesamten (=Vernunft). 

Weshalb erst der alte, erfahrene Mensch die menschliche Freiheit in voller Dimension kennt - der das Leben kennt, dem der Alltag nichts formal (!) "Neues" mehr bringt, der in gewisse Weise "lebenssatt" ist.

Diese Befähigung kann erstens überhaupt erst bei völliger Ausdifferenzierung zum Menschen (Körperwachstum etc.) - als Erwachsener, auch, ja vor allem in den sozialen Umfeldern - der Fall sein, und ist zweitens aber auch als Erwachsener eine immer gefährdete Frucht, die tägliche Einbindung des je Neuen, Einzelnen, ins Sein, das Ganze (Eine) verlangt. Freiheit (Sittlichkeit) die nicht ständig neu erworben wird, weicht der Unfreiheit. (Weshalb christliche Lebensordnung auch täglich-abendliches "Nach"denken, Ordnen der Tageserfahrungen, Sehen des Wirklichen im Vergleich zum Faktischen (Gewissenserforschung) braucht.)




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