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Donnerstag, 19. November 2015

Generationenübergreifende Schuld

Die Überzeugung einer allgemeinen Schuldhafrtigkeit jedes Menschen ist keineswegs eine Erfindung des Christentums oder gar des Judentums. Denn eher wäre es noch umgekehrt. Älteste Inschriften des vorderen Orients sind nämlich älter als die ersten Schriften des Alten Testaments. Und sie alle sprechen recht eindeutig von einer Schuldigkeit jedes Menschen. 

Wenngleich diese alten Überzeugungen, weist Josef Scharbert in "Solidarität in Segen und Fluch im Alten Testament und in seiner Umwelt" nach, meist (nicht aber immer, es gibt Ausnahmen) nicht aus dem genealogisch-historischen Zusammenhang der Geschlechter gespeist sind. Vielmehr ist es dort immer eine je aktuelle Entscheidung Gottes bzw. der Götter, die die gegenwärtige Generation ob ihrer Verfehlungen verflucht oder segnet. Das zeigen die gefundenen Texte. Und es findet sich sogar erhalten bis in den Islam hinein, der ja - auf dem Grundgerüst der christlich-arianischen Vorstellungen errichtet - auf die traditionell-heidnische Religionsüberlieferung der vorderasiatischen Völker zurückgriff.

Ist es da Zufall, daß diese Völker (Sumerer, Hethiter ... und selbst die Ägypter) eine Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn nicht kennen? Mit dem besonderen Licht, das Mischs monumentale "Geschichte der Autobiographie" dazu wirft, die hier die Zusammenhänge zwischen Verantwortungsbewußtsein für Nachfahren und Geschichtsschreibung erkennbar macht. Denn die Geschichtsschreibung ist ein wesentliches Moment der Freiheit für die späteren Generationen.

Den antiken und vorantiken Völkern bleibt nur eine abstrakte - mythologisierte - Wahrheit, die in Riten stets erneuert und vegegenwärtigt wird, um je historisch-aktuelles, reales Erleben und Fühlen einzubergen und "zu erlösen".

Im Alten Testament hingegen besteht dieser Gesamtzusammenhang der Menschheit. Hier wird Schuld der Väter von den Söhnen und Verwandten bzw. Familienmitgliedern, je nachdem: nah und fern, übernommen. Erstmals wird Urzeutvirstellung damit auch historifiziert und gelangt über bloße Mythenbildung hinaus. Erstmals hat Geschichte offenbarende Funktion, erstmals ist Gott ein personales "Mit-Sein" mit den Menschen.

Freilich, allen gemeinsam war, daß explizit der substantielle, reale Wert von Universalien erkannt war. Nur aus der historischen Herkunft wird ein "Universales" begreifbar: nur aus dem realen Herkommen aus einem Menschenpaar, nur aus deren Geschichte, wird ein Universales (Menschheit zu allererst; Familie, Name, etc. etc.) überhaupt erst als Realität begreifbar. Und der Mensch weiß das, seit je. Er konnte es nur nicht fassen, wie es das Judentum fassen konnte.

Denn es entspricht ja wohl auch der jedem erfahrbaren Realität. Die Taten eines Menschen - man vergißt viel zu leicht darauf - und damit er selbst sind ja keineswegs mit seinem Tod erloschen, sondern sie wirken fort. Wer hingegen seine Herkunft, seine Geschichte nicht kennt oder vergißt oder vergessen macht, begeht nicht nur ein Verbrechen gegen seine Vorfahren, sondern er löscht sich damit selbst aus,. weil er aus Vergangenem heraufging, daraus "besteht".

Nicht nur über körperliche Dispositionen, sondern in den Taten und Prägungen, die die Vorfahren zeit ihres Lebens vornahmen, lebt die Vergangenheit in der Gegenwart, ja in alle Zukunft. Vergessen der Vorfahren nimmt ihnen also nicht ihre Taten, aber er wirft sie ins Nichts der Namenlosigkeit, und damit haben die Nachfahren keinen Namen mehr. Dieser muß folgerichtig erlöschen, das Geschlecht stirbt aus.*

Sie werden von den Nachkommen zum Guten wie zum Schlechten weitergeführt, die sich selbst wiederum auf den Vorfahren auswirken. Glück und Segen hier, Fluch und Verderben anderseits - sind also (auch dem realistischen Abschätzen innerhalb menschlicher Erfahrung erschließbar) an das Haus, den Namen, das Geschlecht, die Familie gebunden, wenn auch nicht fatalistisch mißzuverstehen. Aber als Aufgabe und Auftrag.



*Hat der Leser denn wirklich auch nur irgendwelche Zweifel, warum unsere Völker - im Zeitalter des Auslöschens der Namen der Väter - demographisch aussterben? Wie sollte es denn anders sein? Wenn Botho Strauß den Tod der Deutschen als Volk, als Kultur beklagt - was meint er sonst, als den Tod der Namen der Väter?




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