Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 6. März 2016

Exemplum docet - exempla obscurant (1)

Gründlich mit dem Mythos des "vergeßlichen Alters" räumen Hannah Monyer und Martin Gessmann in "Das geniale Gedächtnis" aus ihren Einsichten in den wissenschaftlichen Stand der Gehirnforschung auf. Wenn man ihre Erkenntnisse deutet, ergeben sich ganz andere Tatsachen,  die auffallend mit Theoremen der Erkenntnisphilosophie übereinstimmen.

So die, daß es eben das Wesen des Gedächtnisses ist (als das reale, seinsdefinierende Gegenwärtighalten von Vergangenem), sich in immer umfassenderen, aber einfacheren, also allgemeineren Schnittstellen zu potenzieren. Zwar gehen dabei Einzelheiten verloren, zwar verliert damit automatisch das Gehirn die Fähigkeit Einzelheiten so leicht zu bewahren wie in der Jugend, aber nur, weil es sinnvoll ist. Denn das Allgemeinere enthält eben das Vereinzelte in sich. Mit dieser Konzentration erhöht sich damit sogar das Lösungspotential, indem es weniger Energie beansprucht, rascher vonstatten geht. (Ein wenig fällt wohl unter diese Einsicht das, was man als "Altersstarrsinn" bezeichnen könnte.)

Aus dieser immer kompakteren (allgemeineren) Gedächtniskonstruktion, wie sie das Gehirn biologisch anzeigt, folgt auch ein immer abgerundeteres Selbstbild. In dem aber gerade solche Mythen, wie jene der Altersvergeßlichkeit, eine große und dabei sogar oft störende Funktion erfüllen. Denn, wenn dieses Selbstbild von Selbsteinschätzung (als Selbstbegrenzungen) wie "Gedächtnisverlust" geprägt ist, so ist es der Mensch fast automatisch. Weil gilt, daß der Mensch das vollziehen kann, was er sich zutraut (soweit es natürlich in seinen Grundfähigkeiten vorhanden ist). Wird also aus (mit dem Alter zunehmendem) Realismus zu tief greifender Pessimismus, sinken tatsächlich die Fähigkeiten, weil sie nicht mehr aktiviert werden.² Und aktiviert werden sie durch eben dieses (bewußte oder unbewußt bleibende, im Selbstsein aber immanent enthaltene) Selbstbild. Das im Alter eben weniger zerfleddert, weniger widersprüchlich wird. Sich damit auch gestatten kann, Einzelheiten weniger wichtig zu nehmen. 

Wie heißt es so schön? Exemplum docet - exempla obscurant. Es ist besorgniserregend, wenn man den älteren Menschen heute einreden will, daß sie sich immer wieder neu aus ihrem Selbstkonzentrationsprozeß aufscheuchen sollen, weil angeblich das täglich neu vereinzelt Herantretende "neu" sei.

Dieses (sagen wir lieber so: stumme, selbstverständliche) Selbstbild bestimmt nämlich auch, welche Aufgaben ein Mensch bewältigen kann und (vor allem) soll oder nicht.* Das verweist auf die Rolle des Mythos als Welt- und damit Selbsterklärung. Es bestimmt auch das, was man als "Intelligenz" bezeichnet. Womit wir bei der Bedeutung der Weltanschauung (und damit der kulturtragenden Kräfte) für die intellektuelle Lösungskraft - in Umfang wie in der Art (was meist überhaupt übersehen wird) - sind. Sie bestimmen die Grundherangehensweisen an die Welt.

Deshalb sind beim Säugling weit mehr Gehirnsynapsen (und eine extreme Fähigkeit, raschest neue zu bilden) zu messen, als beim Kind oder gar beim Erwachsenen. Er steckt noch ganz im unbestimmten Vereinzelten der begegnenden Welt, kann sie noch nicht einordnen. Woraus heutige Geistesschnalzer jedem Säugling "Genialität" zuschreiben wollen - als hätte eine solche mit Unbestimmtheit zu tun, ist doch Genialität genau das Gegenteil: die Fähigkeit zu bestimmen, zu ordnen, und damit zu selektieren. Und sich eine Pädagogik breitgemacht hat, die Lernerfolg daraus erwachsen sieht, daß das Kind seine Identitätsmerkmale und Bestimmtheit wieder ABBAUT, sich somit in einen Säuglingsduktus befördert, weil es so angeblich "mehr lernt".


Morgen Teil 2) Warum die heutige Schulpädagogik verblödet, 
und warum aus im physischen Gehirn nachvollziehbaren Vorgängen der, 
der Latein kann, 
fast alle Sprachen der Welt auch im Alter leicht lernt.



²Diese im Gehirn nachzuvollziehenden Vorgänge weisen auf sehr reale Beziehungsbedeutungen hin. Ein simples Beispiel: Wenn ich jemandem diese und jene Eigenschaften abspreche, wird er sie auch kaum entwickeln können, sollte er sie besitzen. Wenn wir also heute das Alter nicht mehr anerkennen (wozu die Gehirnforschung eigentlich mehr als ermuntern würde), ihm nicht mehr den Besitz komprimierter, verallgemeinerter und damit sogar umfassenderer Erkenntnis zugestehen, wird die Generation der Alten die Fähigkeit (sagen wir es so:) "der Weisheit" auch kaum noch entwickeln, zumal das heutige Zeitbild die "Jugend" als Ideal, und damit als Autorität, erhebt.

Wer also seine Eltern für Trottel hält, wird nicht nur ihre Größe gar nicht sehen (weil sein Wahrnehmungsbild diese Größe nicht mehr enthält, als die Sinnesdaten nicht erkennbar macht), sondern diese wird sich bei den Eltern auch nur schwer zur Gestalt entwickeln können, weil sie dazu von ihren eigenen Sinnesreizen (im Begegnenden) auch nicht mehr aufgefordert werden. Das versimpelte Beispiel soll zeigen, wie sehr die Menschen in ihrer Entfaltung VONEINANDER abhängen, weil INEINANDER verhängt sind. 

Es sind also die allen faktischen Funktionalitäten VORAUSGEHENDEN IDEEN (Bilder) - als Beziehungsdynamiken - die die Menschen in ihrem Selbstsein und -werden ausmachen. Sie sind es, worum es im Menschsein eigentlich sogar geht. Die Höhe einer Kultur erschließt sich damit auch aus dem Stellenwert und der Präsenz von "Idealen" als vorausgehende Wesensbilder. Womit wir bei der Erzählung, den Geschichten aus Vergangenem sind, worin sich durch die Sittlichkeitsprozesse (als die man die Rhetorik sehen muß) mehr und mehr Ideen, Wesensbilder (als dem Konkreten der Erzählungsbewegung und -inhalte immanent) herausschälen.



*060316*