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Freitag, 16. Dezember 2016

Ein wahres Lebenswunder

Die Bolschewiki hatten bis 1921 so gewütet, daß praktisch das gesamte Wirtschaftsleben Rußlands zum Erliegen gekommen war. Wenn es überhaupt noch einen Warenmarkt gab, war er "verschwunden", denn die Tscheka, die Exekutive der Bolschewiken, beschlagnahmte alles. Besonders am Land, denn man war sich lange nicht klar, wie man die hundert Millionen Bauern (bei siebzehn Millionen Industriearbeiten) im Rahmen der Neuen Gesellschaftsordnung einstufen sollte. Meist sah man sie als kontrarevolutionär, schon gar aber waren die dreizehn Millionen Kulaken "bourgeois", also jene Bauern, die Höfe oder gar große Höfe besaßen. 

Die Roten wüteten unbarmherzig. Die Berichte, die über ihre Greueltaten durch Zeugenschilderungen existieren, sind nicht wiederzugeben. Pfählungen von Priestern sind da vergleichsweise noch harmlose Details. Die Bestialitäten waren grenzenlos.

Die Klasse der Bourgeois war auf jeden Fall auszurotten, sie stand der Revolution im Wege, ein Bourgeois war vogelfrei. Die Tschekisten waren außer Kontrolle, niemand konnte - und Lenin wollte auch gar nicht, es ging um den Terror selbst als Mittel der Macht - sie kontrollieren. Die Opferzahlen sind nur zu schätzen, denn die offiziellen Berichte auch innerhalb der Tscheka sind äußerst mangelhaft. 

Der Verbrauch an Kokain unter den Tätern stieg in schwindlige Höhen, und er wurde von den Leitungskomitees entschuldigt: Wer verträgt schon so viel Blut und Gewalt. Nichts galt mehr. Moral und Menschlichkeit wurden als Rest der Bürgerlichkeit verdammt, die nur den Zweck hatte, die Menschen auszubeuten.

Aber es gibt Listen zumindest über einige Massaker, sie lassen schaudernd hochrechnen, was im ganzen Land passiert ist. Die Toten und mangels Organisation oft völlig planlos Deportierten, oft genug in Gegenden, in denen es nichts als Stein- und Eistundra gab, gehen in die Millionen. Ganze Bevölkerungsgruppen wie die Kosaken wurden als kontrarevolutionär fast ausgerottet. Die Männer getötet oder deportiert (und dort getötet), die Frauen verschleppt oder deportiert, ebenso die Kinder.

Die landwirtschaftliche Produktion kam gebietsweise völlig zum Erliegen. Die Industrieproduktion sank auf zehn Prozent der Leistung von 1913. Dabei - wer wäre Nutznießer der Enteignungen und dem Beschlagnahmen von praktisch allem, bis zur Unterwäsche, gewesen? Im Grunde niemand. Berichte wie jener, wo unter Folter und Exekution von vierundzwanzig Männern (die Frauen verschleppte man auf die Tscheka-Kommandantur in der nächsten Stadt, wo eine Dauerorgie gefeiert wurde, die ständig neue "Bürgerfrauen" brauchte) die gesamte Ernte eines Dorfes abtransportiert wurde, und fünfzehn Kilometer weiter am Bahnhof nie verladen wurde, sondern dort unter freiem Himmel abgeladen sinnlos verrottete, sind keine Einzelfälle. Man konnte den Terror nicht einmal organisieren.

Mehr und mehr breitete sich über ganz Süd- und Westrußlands (mit der Ukraine) eine unfaßbare Hungersnot aus, die als beabsichtigte "Reinigungsmaßnahme" zu bezeichnen nicht ganz von der Hand zu wischen ist. Kannibalismus war an der Tagesordnung. Es existieren sogar offizielle Schriftstücke, die bei der Tscheka um Erlaubnis ansuchen, Tote zu essen. 

Hilfskomitees, mit den angesehensten russischen Wissenschaftlern und Künstlern, wurden gegründet. Aber die wurden meist rasch wieder aufgelöst, weil man sie etwa unter Verdacht stellte, kontrarevolutionäre Verschwörungsnetze aufzubauen, manche dieser Intellektuellen, die wenigstens einige Monate lang weitreichende Sondervollmachten erwirkt hatten, landeten in Lagern, die das ganze Land überzogen und hunderttausende Insassen hatten. Kaum ein Zehntel der notwendigen Lebensmittel wurden aber immerhin organisiert, das meiste aus dem Westen per Hilfslieferungen. 

Neunundzwanzig Millionen Menschen lebten in den von Hunger am ärgsten geplagten Gebieten, allesamt frühere landwirtschaftliche Fruchtkammern. (Im Tschernosem, dem Schwarzerde-Boden der Ukraine wachsen teilweise zwei Ernten pro Jahr.) 

Von ihnen verhungerten in den Jahren 1920 bis 1922 mindestens fünf Millionen. Insgesamt hatte Rußland von 1914 bis 1922 damit geschätzte dreißig Millionen Tote zu beklagen. Ein unfaßbarer Blutzoll von fünfzehn Prozent der Bevölkerung, der sich 1941/45, aber eigentlich speziell von 1932 an, bekanntlich sogar noch steigern sollte.

Die Lage war aussichtslos. Lenin entschloß sich deshalb, das NEP (Novaja Ekonomitscheskaja Programma/Neues Wirtschaftsprogramm) einzuführen. Das Kleinhandel wieder zuließ, das den Bauern Viehhaltung und Getreideanbau auf eigene Rechnung erlaubte. Das beendete auch viele der wirklich zahlreichen Aufstände und Rebellionen, die es im Land gab und die allesamt blutigst unterdrückt wurden. Aber erstaunlich schnell kam es zu einem Aufblühen.  Der Mensch ist in seinem Willen zu leben ein wahres Wunder!

Zugleich entdeckte die Partei die Nützlichkeit von Zwangsarbeit, interessanterweise zuerst vor allem an den Kosaken aus dem Don, die ungeheuren Überlebenswillen hatten und riesige Infrastrukturprojekte (unter Zwang) verwirklichten. Die Methoden übertrug man im Grunde auf die Normalwirtschaft. Und tatsächlich - binnen eines Jahrzehnts erlebte Rußland einen Industrialisierungs- und Modernisierungsschub, begleitet von einer unglaublichen militärischen Aufrüstung ("für die Weltrevolution"), der beispiellos in der Wirtschaftsgeschichte ist.

Es waren vor allem Rußlanddeutsche, die den Greueln entkommen konnten und im Westen Berichte anfertigten, die die anti-bolschewistische Haltung in der gesamten westlichen Welt zur alles umgreifenden Haltung machte, auch für die Sozialdemokraten. Und dennoch gab es immer noch genügend Intellektuelle und Politiker, die diese Zustände als "Übergang" rechtfertigten!

Dabei sah Lenin die Vorgänge in Rußland nur als Vorspiel zur eigentlichen Revolution - der in Deutschland, ja im gesamten Westen. Als Zentrum der neuen befreiten Weltgesellschaft sah er Berlin. Wo kommunistische Parteien Organisationspläne für den Tag des Losschlagens schmiedeten. Der 1924 in Bayern schon sehr handfest geplante "Marsch auf Berlin" hatte dort seine Gründe, und er war im Grunde die Haltung des gesamten Westens. Die Gefahr war sehr real.

Aber es kam nie dazu, die Weimarer Republik erwies sich als stabiler als gedacht, und breite anti-bolschewistische Bewegungen hatten sich überall gebildet, darunter auch die Deutsche Arbeiter Partei, die spätere NSDAP.* Das blieb nicht ohne Auswirkungen, denn die Kommunistische Partei der Sowjetunion begann sich nun auf einen vorerst längeren Zustand einzustellen, der eine nationale Organisation der Gesellschaft notwendig machte.

Was sich in diesen Jahren unter Lenin abgespielt hatte, der 1924 starb, war nur das Vorspiel zur Verfolgungswelle unter Stalin in den 1930er Jahren.





*Während die Kommunisten die Schuld an den Zuständen speziell nach 1918 dem Kapitalismus als System zuschoben, konkretisierte Hitler die Ursachen in den Juden. Welche Gedanken den sowjetischen Kommunisten freilich alles andere als fremd war. Immerhin ist auffallend, wie hoch der Anteil an Juden in der kommunistischen Führung, aber überhaupt in der weltweiten kommunistischen Bewegung war. Stalin wollte sich 1939 (und noch einmal ab 1954) darum kümmern.





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