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Donnerstag, 21. September 2017

Vom Unsinn, auf Wissenschaft zu bauen

Mit dem Wort Wissenschaft wird heutzutage ein lächerlicher Fetischismus getrieben. Deshalb ist es wohl angezeigt, darauf hinzuweisen, daß die Wissenschaft nichts anderes ist als die Summe der Meinungen der heute lebenden Forscher. Soweit die Meinungen der älteren Forscher von uns aufgenommen sind, leben auch sie in der Wissenschaft weiter. Sobald eine Meinung verworfen oder vergessen wird, ist sie für die Wissenschaft tot.

Nach und nach werden alle Meinungen vergessen, verworfen oder verändert. Daher kann man auf die Frage: "Was ist eine wissenschaftliche Wahrheit?" ohne Übertreibung antworten: "Ein Irrtum von heute".

Die Frage, ob es einen Fortschritt in der Wissenschaft gibt, ist darum nicht ganz so leicht zu beantworten wie gemeinhin angenommen wird. Wir hoffen wohl von gröberen zu feineren Irrtümern fortzuschreiten, ob wir uns aber wirklich auf dem guten Wege befinden, ist für die Biologie in hohem Grade zweifelhaft.

Die Betrachtung des Lebendigen bietet bei jedem Schritt dem unbefangenen Beobachter eine so unermeßliche Fülle von Tatsachen, daß die bloße Registrierung ihrer dieser Tatsachen jede Wissenschaft unmöglich machen würde. Erst die Meinung des Forschers, die das Beobachtete gewaltsam in Wesentliches und Unwesentliches scheidet, läßt die Wissenschaft erstehen. Die herrschende Meinung entscheidet rücksichtslos über das, was als "wesentlich" gelten soll. Wird sie gestürzt, so fallen mit ihr Tausende von fleißigen, mühsamen und ausgezeichneten Beobachtungen als "unwesentlich" der Vergessenheit anheim.

In der Biologie stehen wir noch unter dem frischen Eindruck, den der Sturz des Darwinismus in uns allen hervorgerufen hat. Die Erfolge rastloser Arbeit eines halben Jahrhunderts erscheinen uns heute als unwesentlich.


Jakob von Uexküll in "Umwelt und Innenwelt der Tiere" (1909)





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