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Freitag, 20. November 2009

Angst vor Entmythologisierung

Ich habe noch nie darüber gesprochen, weil ich gerade den erotischen, sexuellen Aspekt an meinem Roman "Helena oder: Das Gute ist was bleibt" einerseits manchmal völlig mißverstanden fand, anderseits bereits bei der Verfassung dieser Möglichkeit gewahr, ja bei bestimmten Menschen sogar gewiß war, daß ich damit wiederum gearbeitet habe ... mehr will ich dazu gar nicht wirklich sagen.

Wie sehr das aufgegangen ist, haben mir manche Leserreaktionen bestätigt.

Mein Roman zeigt somit die Pornographie, er arbeitet mit ihr, als Material der Darstellung, aber er IST nicht pornographisch, und er IST auch kein Material der Pornographie, schneidet an, nicht die Bilder aus - bildlich gesprochen. (Was man sogar bei der Bibel machen kann.) Weil eben die Pornographie, die "bloße Sexualität", ein so immenser Faktor der heutigen Zeit ist. Eine Fragestellung, eine Problemstellung, in die die Menschen im Roman wie im wirklichen Leben in hohem Maß involviert sind. Die klare Grundintention aber, und zwar genau (!) dort, wo sich in einigen Stellen mit minutiöser Präzision und Penetranz Sexualität auf seinen "sachlichen Sukkus" einerseits ausfaltet, anderseits reduziert, so daß manch frömmliche Priesterlein gar meinten, sie seien entsetzt ob der Pornographie darin, beschreibt George Steiner in einem Essay, den ich jetzt erst entdeckte, und der bereits aus 1977 stammt:

Steiner schreibt sinngemäß, daß der wesentliche Kitzel der Sexualität in der Hoffnung besteht, sie enthielte etwas, das sich hinter dem Tabu als weit befriedigender und umfangreicher darstelle, als sonst zugängig wäre. Stellt man sich aber (der paradoxen Intention Viktor Frankl's vergleichbar, deren Wesen ich bereits als 15jähriger selbst entdeckt und entwickelt hatte) den wirklichen "nackten" Fakten, so überfällt einen bald lähmende, entsetzte Langeweile, weil sich Sexualität in seiner Vielfalt als erstaunlich ... einfältig herausstellt. Damit entreißt sich das ganze Gebiet des (vulgo) SEX selbst einer Tabuisierung, die nur um des Erhalts der Faszination wegen überhaupt besteht - aber gar keinen Inhalt abdeckt.

Sprich: Nichts ist in Wahrheit so langweilig, wie Pornographie! Aber dazu muß man sich ihr wirklich "tabulos" stellen. Steiner meint dazu, daß alle die zahllosen Werke dieses Genre nicht nur seltsam eintönig und untereinander vergleichbar seien, sondern die ernüchternde Gewißheit androhen: "Selbst Unzucht kann unmöglich so trübe und so hoffnungslos vorhersehbar sein!"

Das, genau diese Einsicht, die einer Entmythologisierung der bloßen Sexualität gleichkommt, die der Erkenntnis entspringt daß bloße Sexualität leer, Liebe, Persönlichkeit, konkreter Selbstvollzug aber alles ist, genau das liegt den einschlägigen Stellen in "Helena" zugrunde. Und daß bewußt und absichtlich - gerade heute! - rund um die Sexualität eine Hoffnung aufgebaut wird wie bleibt, die dem wirklichen Wesen und Erleben von Sexualität gar nicht entspricht.

Selbst der Konsument von Pornographie also unterliegt einem simplen Irrtum, einem neuzeitlichen Mythos. Wobei es zum Wesen der Pornographie gehört, dies zu tabuisieren.

Das wirkliche Wesen von Erotik, die alleine vielleicht sogar grenzenlos, auf jeden Fall nämlich unerschöpflich ist, und wonach der Mensch in Wirklichkeit strebt, liegt ganz woanders, und es liegt in Sittlichkeit, Persönlichkeit, und Kultur. Wirkliche Erotik entsteht nämlich im Geist des Betrachters, und sie ist ein Geheimnis der Ganzheit. Geistlose Menschen kennen also gar keine Erotik. Die Erotik erfließt nämlich aus einem geistigen Gehalt, der abstrahierbar ist, und in der Erotik als solcherart abstrakte, neutrale Kraft seine Gestalt sucht - unerschöpflich, nur von der Phantasie begrenzt ...

Frank Harris schreibt genau deshalb einmal (natürlich: etwas britisch-ironisch) in seiner Biographie, daß er nun den Beweis dafür gefunden hätte, daß der Marxismus falsch sein müsse: denn FREI - in dieser Erotik eben - könne nur der Bohemien sein, nicht der Proletarier.

In jedem Fall muß man die bloße Sexualität, die hauptsächlich auf die reine Betätigung der Geschlechtsorgane abzielt, als "inhuman" bezeichnen. Und nicht zufällig ist die Enttäuschung beim Ausloten aller Möglichkeiten, die rein körperimmanent vorhanden sind, wie sie am Schluß des "De Sade" entsteht (und, wenn, die vielleicht einzig mögliche Einsicht von Pasolinis "Die 100 Tage von Sodom" sind, beläßt man es nicht beim Eindruck, daß der Film einfach schlecht ist, weil genau diese Absicht nicht gelang) der ja "alles" auslotet (in 120 Möglichkeiten) was möglich ist, so nahe am Sadismus, und so nahe am Verbrechen: als Wut der Enttäuschung, als verzweifelter Versuch, den Vorhang völlig zu zerreißen, weil sich nichts offenbaren will, die Hoffnung unerfüllt bleibt. Darum - wie der Sexmarkt bestätigt - der ständig steigende Bedarf nach immer brutalerem Sex, die Nachfrage nach Sexspielzeug und Technik, nach Stimulantien.

Was im übrigen der Homosexualität, die so zum Sado-Masochismus neigt, sämtliche Kleider vom Leibe reißt. Ergänzt um den Hinweis, daß Totalitarismus immer auch mit einer Standardisierung (Phänomenologisierung) des sexuellen Lebens - das, selbst im Puritanischen, am leiblichen Erleben, und: am Tabu! in jedem des oben ausgeführten Sinn, festgemacht wird - einhergeht.

Selbst, und gerade in dieser gottverfluchten Aufklärung, die heute bei Jugendlichen und Kindern betrieben wird, wo schon VOR den allerersten Liebeserlebnissen die Überwachung zur Technisierung ("Verhütung" als geforderte Norm) in die Köpfe und Seelen implantiert wird. (Neue Untersuchungen, erst jüngst, haben ergeben, daß Jugendliche in überraschendem Ausmaß und gegen alle erklärten Wirkungen der Aufklärungsarbeit, ihre ersten Sexualkontakte als desaströs, weil unter ungeheuren Zwängen, erleben.)

Genau auf der nunmehr etwas ausgefalteten Sichtweise beruht auch das von manchen als schwierig zu lesen empfundene erste Kapitel: es zelebriert, analog zum Gesagten, eine "gefickte", auf bloßes Fleisch reduziert, damit in Details zerfallende Wirklichkeit, die erst im Erstehen eines Interpretationszusammenhangs zum immer runderen (und damit, soviel kann ich sagen: immer wirklich spannenderen)  Geschehen  wächst. Weil es eben keine Wirklichkeit "an sich" gibt, die ohne Sinn besteht, sowenig wie es Sex an sich gibt, der mehr ist als leeres Detail. Ja, sie wird sogar erst dann auch schön ... Ich will das hier ja nur andeuten.

Weil dies aber so ist, weil diese Freude am Eros sohin für viele schwer erreichbar scheint - auch das übrigens ein Mythos, ein Tabu, gestützt u. a. von so viel unbewältigter Schuld - besteht so viel Interesse, den Mythos "Sex" durch groteske und subtile Tabus aufrechtzuhalten. Der die Hoffnung ausdrückt, es gäbe sie doch, die Erotik ...

An welche mein Roman "Helena oder: Das Gute ist was bleibt" (in 2. Auflage noch erhältlich) rührt, als Dienst zur Freiheit.

George Steiner noch einmal, in der Unterscheidung von Erotik in der Kunst, und Pornographie: "Die Dichtung und Belletristik des Westens ist [weil sie vom Leser nicht blinde Gefolgschaft, sondern eigene Initiative verlangte, Anm. eine Schule für die Phantasie gewesen, eine Lehrmeisterin in der Kunst, auf genauere und menschenwürdigere Weise sich seiner selbst bewußt zu werden. Mein Hauptvorwurf [gegen die Pornographie, Anm.] ist, daß diese Bücher [gilt natürlich noch mehr für Bildmaterial und Filme] den Menschen unfreier und unnatürlicher machen, daß sie die Sprache verarmen und weniger geeignet machen, mit ursprünglicher Kraft zu schildern und uns zu erregen. Sie bringen keine neue Freiheit mit sich, sondern eine neue Knechtschaft."




*201109*