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Mittwoch, 6. Januar 2010

Die Interpretation des Zusehers macht den Film zur Geschichte

Der Regisseur und Filmemacher Alain Resnais im Interview in der Presse:

 Ich bin kein Fanatiker, was TV-Serien angeht: Ich verfolge ungefähr ein halbes Dutzend treu. Übrigens sollte man diese Serien nicht episodenweise ansehen. Ich schaue sie immer am Stück, und wenn es 80, 100 Stunden dauert. Sie sind als kontinuierliche Werke konzipiert, nicht damit man eine Folge hier oder da sieht. Bei „Alias“ oder den „Sopranos“ stelle ich mir vor, dass Filmpioniere wie Erich von Stroheim oder Abel Gance ähnlich ausufernde Visionen hatten: Ein Film wie ein großer Roman.

In „Les herbes folles“ zitieren Sie viele andere Filme. So geht eine Figur ins Kino zu „Die Brücken von Toko-Ri“ (1954).

Resnais: Dabei kenne ich den Film nicht einmal – der steht noch auf meiner Liste! Das kommt direkt aus der Romanvorlage, obwohl ich auch Autor Christian Gailly verdächtige, Die Brücken von Toko-Ri nie gesehen zu haben: Mein Kodrehbuchautor Laurent Herbier stellte bei der Recherche fest, dass die Beschreibung des Films im Roman nicht stimmt! Gailly hat die Gewohnheit, fehlerhafte Details in seine Bücher zu packen, damit die Leute beim Lesen aufpassen. Also gibt es in meinem Film auch absichtlich unverständliche Momente – alles von Gailly! Einmal wird etwa eine Essenseinladung ausgesprochen: „Seien Sie pünktlich, es gibt Kalbseintopf!“ Aber wenn man etwas beliebig lange warm halten kann, dann Eintopf! Doch wir beließen es wie im Buch.


Spielt Nostalgie eine große Rolle für Sie?

Resnais: Man entdeckt überall Gründe, um nostalgisch zu werden. Es geht gar nicht anders, aber ich versuche, mich dagegen zu wehren und immer den interessantesten neuen Dingen zu folgen. Es gibt viele Texte über mich als „Regisseur der Erinnerung“: Ich weise diese Bezeichnung entschieden zurück. Ich bin kein „cinéaste de la memoire“, ich bin ein „cinéaste de l'imaginaire“, ein Filmemacher der Imagination. Ich bestaune einfach den Reichtum der Vorstellungskraft, bin immer aufs Neue verblüfft. Oft kann ich – auf einer rein konzeptuellen Ebene – den Unterschied zwischen Cézannes Äpfeln und wirklichen Äpfeln im Garten nicht erkennen. In gewisser Weise versuche ich, beide Vorstellungen gleichzeitig zu bedienen. Es gibt Tage im Leben, da haben Cézannes Äpfel größeren Wert, an anderen ein Korb echter Äpfel. Das ist nur eine Analogie, aber beim Filmemachen geht es für mich überhaupt nicht darum, ob ich mir etwas einfallen lassen, sondern ob ich Gefühlsregungen provozieren kann. Damit der Zuseher auf seinem Platz bleibt und nicht geht. Ich versuche keine besonderen Botschaften zu vermitteln.


Ihre letzten Filme waren stark theatralisch, „Les herbes folles“ ist wieder „cinema pur“.

Resnais: Ich konnte nie etwas anfangen mit dieser Debatte: Theater gegen Kino. Mir ist es am liebsten, wenn die Leute vom Film als einer Show sprechen, „un spectacle“: Das Publikum weiß, dass es projizierte Bilder eines Spektakels zu sehen bekommt. Das ist sehr ähnlich, wie auf der Bühne Schauspielern in Kostüm und Make-up zuzusehen, die Texte sprechen, die nicht von ihnen stammen. Ich bin gegen Illusionismus, ich will nie den Eindruck erwecken, dass ich schwindle. Wenn ich ins Kino gehe, kann ich ja auch von dokumentarischen und naturalistischen Filmen überwältigt werden. Aber ich lade mein Publikum dazu ein, sich Dinge vorzustellen, die gar nicht auf der Leinwand sind, sondern höchstens an ihren Rändern auszumachen sind.


Ihre ersten Spielfilme entwickelten Sie mit Schriftstellern wie Alain Robbe-Grillet bei „Letztes Jahr in Marienbad“. Wurden Sie vom Nouveau Roman beeinflusst?

Resnais: Ich bleibe dabei: Ich habe mich nie künstlerischen Moden angeschlossen. Robbe-Grillet wurde mir vom Produzenten vorgeschlagen, ich kannte seine Arbeit nicht. Erst nachdem wir uns einen Nachmittag unterhalten und geeinigt hatten zusammenzuarbeiten, las ich seine Bücher – und war fassungslos. Er war ein literarischer Trendsetter, doch ich bin nie Trends gefolgt. Aber auch mich fasziniert es, die Dinge zu abstrahieren, um sie wissenschaftlich zu sehen. Bei „Marienbad“ lag die Herausforderung darin, eine Geschichte zu erzählen, ohne auf die Chronologie zu achten: Robbe-Grillet hat mich daran erinnert, dass für die Fantasie die Zeit ebenfalls keine Rolle spielt. Wenn ich mir vorstelle, dass ich nach Paris heimfahre, überlege ich mir auch nicht, wie ich ein Taxi rufe, einsteige, wieder aussteige, um den Zug zu nehmen usw., bis ich endlich daheim den Mantel ausziehe. Stattdessen sehe ich mich gleich, wie ich zu Hause die Post durchgehe. Also war das Erzählen der Geschichte eine Frage der Imagination – sie springt durch die Zeit.


Was hat Sie dann geprägt?

Resnais: Meine ästhetischen Ideen gehen wirklich auf die Zeit zurück, als ich 18 war und mein Freundeskreis glaubte, das Kino hätte keine Zukunft, weil es Bilder nicht interpretieren könnte, sondern nur zeigen, wie gedruckte Wörter auf einer Seite. Ich rechtfertigte also meine Liebe zu dieser Kunstform mit dem Argument, dass der Filmschnitt zwei Bilder zusammenbringt, und das eine dem anderen Bedeutung verleiht: Die Montage macht Film zu Kunst. In den Dreißigerjahren nahm man das Kino weit nicht so ernst wie heute. Kleine Gruppen debattierten über Pudowkin oder Lubitsch, aber die Filme konnte man nur in Zwergensälen in der Hauptstadt sehen. Ich kam mit 15 Jahren nach Paris, um in der trockeneren Luft mein Asthma zu kurieren. Das Kino hatte ich schon in der Bretagne entdeckt, da ging ich einmal pro Woche. Zuerst sah ich natürlich nur Stummfilme. Ich brauchte ein Jahr, um den Tonfilm zu akzeptieren!


Musik ist bei Ihnen immer wichtig. „Les herbes folles“ beginnt mit Jazz.

Resnais: An Gailly zogen mich seine blumigen Dialoge an: wie ein Jazzsaxofonist beim Improvisieren. Das wollte ich den ganzen Film über durchhalten. Die Musik erlaubt mir, Gefühle zu betonen: Wenn man die Chronologie zerlegt, hält das die Aufmerksamkeit in der Szene. Viele sagen ja, ein guter Film brauche keine Musik, aber ich weiß es aus Erfahrung besser: Als wir die erste Schnittfassung von Hiroshima mon amour zeigten, noch ohne Musik, fanden die Leute den Film zu kompliziert. Doch als Giovanni Fuscos Kompositionen dazukamen, kannten sich alle aus.




*060110*