Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 12. Februar 2010

Zum Verständnis der Antigone

Der wahre Konfliktstoff der "Antigone", so weist es der Religionsforscher Alfred Bäumler im Zuge seiner Untersuchungen über antike Religion nach, ist ein zutiefst religiöser. Und er ist nur verständlich, wenn man das antike Religionsverständnis (siehe unter anderem Aussagen von Kerenyi) begreift.

"Der Streit liegt nicht zwischen Antigone und Kreon - sie sind nur Repräsentanten, sondern im Gegensatz zwischen den unteren und den oberen Göttern." An den Toten hat der König aber so wenig ein Recht wie die Gottheiten der Oberwelt. Antigone dient mit ihrer Handlung den unteren Göttern. Und Teiresias spricht es am Schluß offen aus: weil Kreon den Unteren einen Leichnam entzogen hält, verfällt er den Erinnyen. Antigone muß den unteren Göttern mehr gefallen, als den oberen. Kreon spottet ja wenn er sagt, sie solle ruhig zum Hades flehen, dem alleine sie diene - sie werde erkennen, daß umsonst sie sich abmühe, wie jeder, der des Hades Reich verehre. Antigone hat keinen offiziellen Entscheid des Zeus gesehen, in dessen Namen sich Kreon im Recht fühlt. Und deshalb sieht Antigone sein Handeln als Willkür - als menschlich und verwerflich.

Hegel übrigens sah deshalb die Antigone (richtig) als großartigen Kampf um Pietät, die für Hegel ein Grundgesetz des Lebens - ein Gesetz des Weibes - war. Sie kommt aus den tiefen Urgründen des religiösen Lebens und Empfindens der Menschheit überhaupt, dessen Ursprung im tiefen Dunkel der Vorzeit liegt, und im Widerstreit mit den ("männlichen", apollinischen) Gesetzen der späteren Zeiten, den Zeiten der Staatengründung, liegen. Er wird durch Sophokles nur im "Männlichen" und im "Weiblichen" symbolisiert beziehungsweise individualisiert.

In Antigone setzt sich das chthonische, unterirdische Recht der Familie durch, die den (toten) Angehörigen der bloßen Geschehenshaftigkeit der Erde entreißt, sein "Schicksal" somit der menschlichen Sphäre anheimstellt. Die eigentliche Macht und Kraft des Staates liegt aber genau in diesem unterirdischen Reich, das in der Familie waltet: die Familie ist sohin über den Staat zu stellen, sie ist keine bewußte Tat, sondern an sich seiendes Wesen, innerliches Gefühl. Durch das Weib (Antigone) findet das unbewußte Sein ans Tageslicht, wird dem Dunkel entrissen.

Diesen Grundsatz überschreitet Kreon. Der entehrte Tote macht sich mit den Mächten der Unterwelt auf, um das Gemeinwesen zu zerstören. Denn die ihrer selbst sichere und sich versichernde Gewißheit des Volkes, so Hegel, hat die Wahrheit ihres alles in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wässern der Vergessenheit.

Das Leben des Staates zieht seine Kraft aus den stummen Wässern der unterweltlichen Bereiche, aus der Pietät, aus der Familie.

Das Gedeihen des Staates hängt von der Art der (begattenden) Begegnung  des männlichen-apollinisch-geistigen, gestalthaften, und dieser (weiblichen) Pietas ab, die hinwiederum aber ... und hier bleiben wir vielleicht nicht ganz bei Hegel ...  nicht als lustvolle Gattin, sondern nur als keusche Schwester höchste Sittlichkeit erreicht. Wir neigen also zu der Deutung, daß das (familiäre) Recht von Schwester zu Bruder nach griechischer Auffassung näher, ursprünglicher, bedeutender wiegt als es (wie in der Orestie - der Mord der Mutter an ihrem Gatten wird vor den Göttern als geringerer Verstoß gesehen, als der des Sohnes, aus Rache, an der Mutter!) andere Verhältnisse tun. Denn der Staat ist in seinem Kern (siehe: Rede von Jacob Grimm am Grabe seines Bruders) eine Gemeinschaft von Geschwistern.