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Samstag, 20. März 2010

Zeichen der Zeit

Steht man vor dem Hause am Beginn jener kleinen Gasse, die ehedem das schmale Gäßchen - ein "Schlupf", davon der vormalige Begriff "Schlippergasse" - gewesen, das zu den Weingärten der südlich ausgerichteten Hänge der Ränder der Stadt führte, so befindet sich rechter Hand ein Internetcafé, und links der Leichenbestatter, in dessen Schaufenster die Toten der Stadt angeschlagen sind. An sich nicht verwunderlich, liegt doch die Széntlelek templom - die Heilig Geist Kirche - gleich anschließend. Und womit sonst hat Tod zu tun, als mit Jenseits, ist doch der Gottesdienst, die Messe, die Öffnung des Tores, auf daß sich zwei nun getrennte Welten zu einer wiedervereinen.

Es gibt keine Weingärten mehr, nicht mehr dort, wo die Gasse hinführt, gerade diese besten Lagen sind mittlerweile vollständig von modernen Siedlungshäusern verdrängt. Der für Sopron berühmte Kekfrankos, der Blaufränker, wird heute deutlich außerhalb der Stadt gezogen.

Nach dem Kriege, nach der Vertreibung (oder der rücksichtslosen Magyarisierung, was in gewisser Hinsicht keinen Unterschied macht, weil man die Menschen zwang, sich in der abgeschnittenen und auch umgedeuteten Vergangenheit selbst zu verleugnen - was also blieb noch denen, die blieben ...?) der Deutschen, verschwand mit ihnen auch die Weinbaukompetenz, denn sie waren (auch) die Weinbauern gewesen. In Schnellsiedekursen wurden vor allem den Zuzüglingen, die die nun leerstehenden Häuser bewohnen sollten (aber lange nicht wollten) Grundbegriffe des Weinbaus beigebracht, erst heute und nach fünfundsechzig Jahren wagt man es wieder, von Qualitätswein zu sprechen. Die Gasse aber heißt nun nach dem kleinen Dorf, das man nach fünfzehn Kilometern über sie erreicht: Balf.

In dem Lokal neben dem Temetkezési, dem Bestatter, noch vor dem Durchgang, der Café und Bestatter trennt, befand sich, noch heute erkennbar, ein Schreibwarengeschäft. Es hielt sich nicht lange, mußte mangels Kundschaft schon nach wenigen Monaten wieder zusperren.

Das Internetcafé, in dem tagaus tagein vor allem Studenten stumm sitzen, und in eine andere jenseitige Welt starren als die Kirchgeher von Széntlelek, war zuvor das "Beisel ums Eck" der Gegend, das ausgelagerte Wohnzimmer, wie es immer noch die völlig unterschätzten Stammbeisel, die Stammkneipen darstellen, die soziale Gefüge nicht einfach schweißen, sondern sind. Betritt man die Räumlichkeiten heute, so herrscht eisernes Schweigen, und sogleich umfängt einen die eigentümliche Pietät des "Nichtraumes", in dem lauter Parallelwelten in sich versunken beschäftigt sind, der Raum als bloße technische Ausrüstung gar nicht erst versucht, soziale Stätte zu werden. Selbst beim Leichenbestatter wird mehr und schon gar lockerer geredet, wenn die Angestellten die Särge durch die Gänge des Hauses fädeln, und dies nicht anders tun als wuchteten sie Bierkisten.

Deren Lagerräume sind vom Internetcafé nur durch eine dünne Türe getrennt. Aber es hätte auch ein Blatt Papier genügt, im Geschäft mit Geistern.




*200310*