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Freitag, 9. April 2010

Die hinzugedachte Welt

Anhand der von jedem zu machenden Beobachtungen am Sehvorgang zeigt Schopenhauer den Anteil von Verstand wie, in der Unterscheidung: der Vernunft, am menschlichen Wahrnehmen (und insofern: begrifflich konstituieren) der Welt. Wie am Beispiel eines Schiffes, das unter einer Brücke, auf der wir stehen, durchfährt. Was, wer bewegt sich? Das Ufer scheint sich zu bewegen, der Verstand "sieht" in seiner Annahme einer Kausalität "immer" richtig, denn er geht von Ursache und Wirkung aus. Erst im Abstrahieren, dem Zusammenführen und Abwägen vieler Eindrücke und Fakten, wird die wirkliche "Wirklichkeit" erfaßt.
Das vom Verstand richtig erkannte, schreibt er in "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde", ist die REALITÄT. Das von der Vernunft richtig erkannte ist die WAHRHEIT, das ist ein Urteil, welches Grund hat: jener ist der SCHEIN (das fälschlich Angeschaute), dieser der IRRTHUM (das fälschlich Gedachte) entgegengesetzt.

Obgleich, schreibt er weiter, der rein formale Theil der empirischen Anschauung also das Gesetz der Kausalität, nebst Raum und Zeit, a priori im Intellekt liegt, so ist ihm doch nicht die Anwendung desselben auf empirische Data zugleich mitgegeben: sondern diese erlangt er erst durch Übung und Erfahrung. Daher kommt es, daß neugeborene Kinder zwar den Licht- und Farbeneindruck empfangen, allein noch nicht die Objekte apprehendieren und eigentlich sehen; sondern sie sind, die ersten Wochen hindurch, in einem Stupor befangen, der sich alsdann verliert, wenn ihr Verstand anfängt, seine Funktion an den Datis der Sinne, zumal des Getasts und Gesichts, zu üben, wodurch die objektive Welt allmählig in ihr Bewußtsein tritt. Dieser Eintritt ist am Intelligentwerden ihres Blicks und einiger Absichtlichkeit in ihren Bewegungen deutlich zu erkennen, besonders, wenn sie zum ersten Mal durch freundliches Anlächeln an den Tag legen, daß sie ihre Pfleger erkennen.

Das zeigt sich sogar an Blinden, die durch Operation wieder "sehend" werden: sie "sehen" nämlich erst, trotz wiederhergestellter Sinnesreizungen, "gar nichts". Sondern sie müssen erst lernen, diese Reizungen zu bewerten, in Erfahrung umzusetzen, und schließlich abstrakten Anschauungen zuzuordnen, um so endlich zu "sehen".

Damit wird nicht nur der Anteil des Ich (und damit der Sittlichkeit, im erweiterten Selbst) am Urteil über die Welt klar, klar dessen Aufgabe des Konstituierens selbst - ein Satz, der stimmt, solange man dieses Konstituieren nicht im ontologischen Sinne versteht (wenn auch die Quantenphysik in ihren Aussagen aus Beobachtungen in dieser Richtung zarte Hinweise nahelegt: denn manche Ergebnisse könnte man dahingehend deuten, daß das Bewußtsein den kleinsten Bestandteilen der Materie ihre Eigenschaften mitteilt, Anm.) - sondern auch die Bedeutung übernommener "a priorischer" Urteile sowie der Qualität wie Quantität schon der als Kind gemachten - realen, nicht der "erzieherisch gedachten" - Erfahrungen als abgelöste Eigenschaften der Wirklichkeit.

Das Anschauungsbild geht dem sinnlich Erfaßten voraus - das nun erst zum Gesehenen, zum Etwas wird. Epicharmos, ein griechischer Philosoph, sagt es einmal so: Der Verstand sieht, der Verstand hört, alles andere ist blind. Weil die Empfindung in den Augen und Ohren keine Sinneswahrnehmung bewirkt, wenn nicht das Denken dazukommt. Und Plutarch, der davon berichtet, schreibt weiter: Es ist der Physiker Straton der beweist, daß ein Wahrnehmen ohne Verstand ganz unmöglich ist.

Es gibt sie nicht, die weltanschauungsfreie Wahrnehmungswelt, und insofern - aber nur insofern - weltanschauungsfreie Welt der Objekte. Daher müssen alle wahrnehmenden Wesen Verstand (zumindest in der Erkenntnis der Kausalität als Welteigenschaft, Anm.) haben, denn nur durch den Verstand nehmen sie wahr.

Aber nicht alle haben Vernunft - die bleibt dem Menschen eigen. Und hier tatsächlich: jedem, und prinzipiell in gleichem Ausmaß. Die menschlichen Unterschiede in der Leistungsfähigkeit liegen im Verstand, der über die Sinne je sein "Material" zu bearbeiten, sein Menschsein zu konkretisieren hat.

Die Gliederung, Ordnung aber ist allgemein menschliche Leistung.

Die Kausalität der Welt, aus der heraus erst Verstandestätigkeit (in unterschiedlicher Ausprägung und Veranlagung) aussagbar ist, muß also, so Schopenhauer, eine a priori Erkenntnis sein, die sogar den Tieren eignet. Aus der Wahrnehmung über die Sinne alleine erschließt sie sich nicht: denn sie setzt voraus, was die Sinne erst liefern sollten. (Dies, in Schopenhauer'scher Diktion, gegen den Empirismus von Locke und Hume gesagt.)

Doch geht es ja nicht um die Kausalität, hier, sondern ... um die Kunst, und deren Wirkung. Und deren Aufgabe. Weshalb ein Wort von Leibniz angebracht ist, der in diesem Zusammenhang sagt: "Die Wahrheit der Sinnendinge besteht nur in der Verknüpfung der Erscheinungen, welche ihren Grund haben muß, und das ist es, was sie von den Träumen unterscheidet. [...] Das wahre Kriterium, wo es sich um Sinnendinge handelt, ist die Verknüpfung der Erscheinungen, welche die tatsächlichen Wahrheiten hinsichtlich der Sinnendinge außer uns verbürgt."

Die Aufgabe der Wahrheitsfindung ist also: das Herstellen (bzw. Finden) jener Ordnung (im wiederherstellenden Darstellen), die sich auch in der (vielfach als Ursache-Wirkung-Stränge verflochtenen) Realität ("...") findet, und sich an ihr "erweisen" läßt. Und in diesem Sinn: die Realität zur Wahrheit erhellt.

Wenn es also eine Poesie überhaupt geben kann, so muß sie auch hinter aller Realität - als Wirklichkeit - stecken. Dies vorbeugend gesagt: um Poesie von Traum (Schein), und wie erst von einer völlig mißverstandenen, willkürlich gedachten (also: positivistischen) "Phantasie" abzugrenzen.

Der Dichter, der Mensch, denkt also der Welt sie selbst, in ihrem Wesen, hinzu, und macht sie begreifbar ...

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