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Montag, 19. Juli 2010

Eine Sprache = ein Volk

Der neue deutsche Bundespräsident Christian Wulff sprach bei seinem Antrittsbesuch am letzten Donnerstag in Wien davon, daß die Beziehung zwischen den beiden Ländern Deutschland und Österreich weltweit einzigartig zu bezeichnen sei. Die kulturellen Gemeinsamkeiten seien nicht alleine auf die gemeinsame Sprache zurückzuführen, sondern Ausdruck einer tiefen Freundschaft.

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Der bundesdeutsche Lehrer Jürgen Mirow hatte vor nun schon zwanzig Jahren einen Bestseller geschrieben: "Geschichte des deutschen Volkes". Dabei gelang ihm etwas, das von sämtlichen deutschen Zeitungen mit Hymnen bedacht wurde: ohne heikle Verstrickungen in Nationalbegriffe einzugehen, hat Mirow "Deutsches Volk" kurzerhand als die Gemeinschaft aller Deutschsprechenden definiert. Es sei, so der Autor, ohnehin unmöglich, die Geschichte in ihren Wechselfällen anders zu definieren, denn auch die Landesgrenzen seien höchst ungewisse Bestimmungen gewesen - wie ein Blick in die europäische Geschichte lehre.

Mirow hat deshalb selbstverständlich die Geschichte der ehemaligen Ostgebiete in Polen und im Baltikum genauso in sein Opus aufgenommen, wie die Österreichs, der Schweiz, sowie der Aussiedler in Osteuropa, Rußland, Rumänien etc.

Das Buch ist seit vielen Jahren ungebrochen Verkaufshit, und wird in Deutschland von allen Seiten einhellig aufgrund seiner unkomplizierten Art mit den Fragen umzugehen, seiner Ideologiefreiheit und Originalität gelobt. Es ist längst Standardwerk in Schulen und auf Universitäten.

In Österreich wurde es bisher ignoriert. Wenn ich auch sagen muß, daß ich das bisher tiefste Verständnis auch der eigenen Seele, des eigenen Werdens, einem Österreicher verdanke - der Literaturgeschichte der Deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nadler, die er in mehreren und immer weiter umgreifenden und tiefer schürfenden Auflagen von 1914 bis 1932 verfaßt hatte. Auch wenn Nadler hierzulande schlecht beleumundet ist, weil er den Nationalsozialismus mit jenem schöpferischen Neubeginn verwechselte, den er für so notwendig hielt, und den er sich einzig aus den tiefsten Quellen des Volkstums - in einer Renaissance - erstehend vorstellen konnte. Aber in dieser Genarrtheit war er beileibe nicht der einzige. Aber Nadler hat - und Mirow soll es ähnlich versucht haben - die Geschichte als dargestellte Geistes- und Seelengeschichte verstanden und gedeutet. Und damit tatsächlich verstehbar gemacht, weil er anhand durchgängiger Linien hinter den vielen wechselnden Erscheinungen Motive bis ins Heute verfolgbar und erkennbar gemacht hat.

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Der deutsche Demographie-Papst Herwig Birg hat bei gleichbleibender demographischer Entwicklung die Größe der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe im Jahre 2200 weltweit mit etwa zehn Millionen Menschen bezeichnet. "Deutsch ist eine aussterbende Sprache," meinte der Forscher in einem Radiointerview vor drei Jahren.

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Die Sprache, titelt Hugo von Hofmannsthal seinen berühmten Vortrag in München 1919, ist der geistige Raum eines Volkes. Stirbt eine Sprache, auch nur in Teilen, wird sie nicht gepflegt, gehen geistige Aspekte des Weltbegreifens unwiederbringlich und für die ganze Menschheit verloren. Das verlangt nicht nur großen Respekt vor einer Sprache, wie sie von den Vorvorderen übernommen wird, sondern auch größte Behutsamkeit in ihrer weiteren Behandlung. 

Das wesentliche an einer Sprache geht ihr voraus - Sprache erfaßt es nur. Und sie tut es am vollkommensten in der Poesie, der (war es Herder? war es Hamann?) Muttersprache jedes Menschen. Deshalb ist geistiger Inhalt als bereits geleistetes Begreifen nur bei vollkommenem Sprachverständnis überlieferbar: geht es doch um Nacherwerb dessen, was die Vorvorderen bereits hatten.

Denn nur in der natürlichen Verknüpfung von Wort, Laut und Erfahrung, die durch die Gemeinsamkeit im Begriff identifizierbar wird, wird auch die Welt umfassend transportiert - und zum Besitz, im Geist zu dem man sich erhebt.


*190710*