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Dienstag, 19. Oktober 2010

Marxismus kurz und bündig

Harry Graf Kessler bringt auf eine präzise und knappe Formel, was das Wesen des Marxismus ausmacht. Und er stellt so nebenbei einige abstrakte Haltungen dar, wie sie bis heute aktuell sind, denn ...


"... Marx stützt die ethische Berechtigung des Klassenkampfes auf eine sozusagen juristische Forderung: der Bourgeois vergütet dem Proletarier nicht den ganzen Wert seiner Arbeit, sondern nur einen Teil dieses Wertes: den anderen Teil (Marx nennt ihn Mehrwert) steckt er ohne Gegenleistung in die Tasche; dieser Unterschlagung verdankt er sein Einkommen, sein Kapital, seine Existenz. 

Der Proletarier fordert das Unterschlagene, den Mehrwert, zurück; aber das Urteil ergeht in der kapitalistischen Gesellschaft gegen ihn, nicht weil er unrecht hat, sondern weil der Bourgeois die politische Macht und die Produktionsmittel sich gesichert hat und das Recht beugen kann. Daher muß der Proletarier beides, die Produktionsmittel und die politische Macht, erobern; und ihn stützt dabei das Recht, wenn nämlich die Voraussetzung richtig ist, daß der Unternehmer ihm einen Teil des Kaufpreises für seinen Arbeitswert unterschlägt.

Dies die ethische Grundlage des Marxismus. Sie ist agitatorisch hinreißend, politisch unerhört wirksam, aber schmal und offensichtlich schwach, weil sie von einer Voraussetzung ausgeht, die zum mindesten bestritten ist."

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Walther Rathenau übrigens geht nicht einfach nur von diesem Unrecht aus, sondern für ihn ist das Unrecht viel tieferliegend, diese Unterschlagung ist nur Teil eines viel größeren Unrechts, nämlich dem des Diebstahls der Seele. "Nicht innere Notwendigkeit des Mechanisierungsprinzips," schreibt er, "sondern bequem gebilligte Begleitumstände der Entwicklung haben die an sich unvermeidliche Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Leistung zur ewigen und erblichen gemacht und so in jedem zivilisierten Lande zwei Völker geschaffen, die blutsverwandt und dennoch ewig getrennt, im gleichen Verhältnis wie ehedem die stammesfremden Ober- und Unterschichten, einander gegenüberstehen. Beide sondert und beherrscht der Zwang."


*191010*